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Warum Horst und nicht Otto?  (Gerhard Zwerenz)

Die Heldenkerle zogen 1918 und 1945 geschlagen nach Haus, die Enkel fechten’s heute noch dümmlicher aus. Vonwegen man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Unsere Meisterschwimmer schaffen es dreimal.

Was Tucholsky in seinem Satireband »Deutschland, Deutschland über alles«, den übrigens der damalige Börsenverein des deutschen Buchhandels mit allen Mitteln zu boykottieren suchte, für den Übergang vom 1. zum 2. Weltkrieg diagnostizierte, belegt Otto Köhler für den 3. Akt der Katastrophe, die zu befürchten steht, wenn die Klassen- und Kriegsherrschaft eskaliert. Tucholsky: »Wir sind zu lange still gewesen. Wer hat auf uns Rücksicht genommen? (...) Gäbe es irgendwo eine Gruppe junger Menschen, die antifaschistisch sind, so wollte ich wohl mittun.«

So etwas wird bei uns immer erst nach der jeweiligen Niederlage wahrgenommen. Es dauerte mehr als 60 Jahre, bis die FAZ mit den SS-Offizieren und Judenjägern im Bundeskriminalamt erstaunlich radikal abrechnete und auch sagte warum: Die alten Kameraden sind inzwischen verstorben. Solange die braunen Typen in Amt und Würden lebten, überließ man die Distanzierung anderen. So schrieb Otto Köhler zum Beispiel über SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, bei der Bonner Sicherungsgruppe staatsbeamtet und versichert, obwohl in Turin zu Lebenslang verurteilt.

Ich sage Köhler und meine Otto, nicht Horst. Wäre Otto Horst, setzte es Reden mit Substanz. Warum wurde Horst Bundespräsident und nicht Otto? Der dürfte das nicht mal nach dem 3. verlorenen Weltkrieg.

1961 freute er sich als Berliner Student, als neben dem Publizistik-Professor und Hitler-Lobredner Dovifat die damals 44jährige Leiterin des Allensbacher Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, Vorlesungen hielt. Es war aber keine Alternative. Nachzulesen in Köhlers Buch »Unheimliche Publizisten«, Untertitel: »Die verdrängte Vergangenheit«. Die Verdrängung begann schon zu Weimarer Zeiten. Warum wurden Tucholsky und Ossietzky nicht in der Frankfurter Zeitung gedruckt? In einer kleinen Glosse für Ossietzky notierte ich vor Zeiten: Stell dir vor, wir hätten in Deutschland keine Zensur. Eckart Spoo gäbe die Bild-Zeitung heraus, Otto Köhler leitartikelte in der Welt, und Dietrich Kittner dürfte regelmäßig in der ARD auftreten.

Stell Dir vor, Tucholsky hätte sich nicht das Leben genommen, die Bundeswehr klagte ihn vonwegen »Soldaten sind Mörder« an, und Rolf Gössner verteidigte unseren Mann vorm Reichsgericht.

Stell dir vor, Hitler hätte sich schon 1933 erschossen, und Hindenburg verschenkte seinen Helm samt Bart an das präsidiale Sprachgenie Horst Köhler. Stell dir vor, Hitlers Mama hätte ihn abgetrieben, dann wäre Joachim Fest arbeitslos geblieben mit Hartz IV, und Albert Speer spielte sein Leben lang im Kölner Karnevals-Dreigespann die Jungfrau. Stell dir vor, das alles stünde in einem FAZ-Artikel und stammte von mir. Dann gäbe es sogar Honorar dafür.

Das ließe sich noch konkretisieren. Warum wurde Adenauer Kanzler und nicht Niemöller? Warum wurde Heuss Bundespräsident, nicht Adorno, Gollwitzer, Bloch? Schaffte es aber mal ein Gustav Heinemann in Ministerämter, gab’s dort bald danach die Bleisoldaten Schily, Scharping, Fischer, Jung, Schäuble: Tornados statt Friedensdividenden. Nähme man wenigstens als Kriegsminister den Eppelmann, der hat Erfahrung mit der Auflösung von Armeen.
Am 13. Oktober 07 war in der FAZ zu lesen, für das »Scheitern der Weimarer Republik« seien »Ernst Jünger und Kurt Tucholsky verantwortlich zu machen«. Der ehemalige FAZ-Redakteur Friedrich Karl Fromme wußte schon 1986, daß »Tucholsky (…) zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat«. Noch früher, am 10. Mai 1933, wußten es die Bücherverbrenner: »Gegen Frechheit und Anmaßung – für Achtung und Ehrfurcht vor dem deutschen Volksgeist – ins Feuer mit den Büchern von Tucholsky, Ossietzky …«

Im Klartext: Hätte das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert nicht über Soldaten und Kanonen verfügt, wären Millionen von Menschen am Leben geblieben. Dazu hätte man statt Ernst Jünger jedoch Tucholsky lesen müssen. Lesen Sie heute Otto Köhler!

Gerhard Zwerenz war Laudator, als Otto Köhler 2007 gemeinsam mit Lothar Kusche im Deutschen Theater Berlin den Kurt-Tucholsky-Preis erhielt.