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Titel119

Europa – aus nichtdeutscher Sicht  (Susanna Böhme-Kuby)

Wer seine Informationen über europäische Verhältnisse aus den herrschenden Medien in Deutschland bezieht, sieht auch diesen Teil der Welt durch eine starre Brille herrschender deutscher Interessen. Ein Blick zum Beispiel in die deutsche Berichterstattung der letzten Monate über Italien genügt, um zu erkennen, wie tief auch hier bornierte Vorurteile verankert sind, die neu belebt werden.

 

Aus anderen Blickwinkeln Europas, wie Italien, Griechenland, Spanien oder auch Frankreich, bieten sich andere Bilder. Dort wird immer deutlicher, dass die Europäische Union heute offenbar jene Ziele verfehlt hat, die man einst den Bewohnern des kriegsmüden Kontinents zu erreichen versprochen hatte: Frieden und Wohlstand für alle. Während des nun schon 60 Jahre währenden Einigungsprozesses sind aber die ökonomischen und sozialen Unterschiede unter den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht etwa abgebaut, sondern verschärft worden. Man hat auch nicht abgerüstet, sondern Kriege nur ausgelagert. 30 Jahre nach dem Sieg des Westens am Ende des Kalten Krieges, stehen wieder deutsche Soldaten (mit NATO-Truppen) an der russischen Grenze und an über hundert weiteren Standorten, an denen im Rest der Welt erklärtermaßen »deutsche Interessen« verteidigt werden, wie – inzwischen sprichwörtlich - auch am Hindukusch.

 

Nachkriegsentwicklung und Wirtschaftswunder

Das westliche Nachkriegseuropa, das – nach Muster und Interesse der USA – die bestehenden ökonomischen Machtverhältnisse weder im Innern noch zwischen den Staaten verändern wollte, bot zumindest verbal ideelle Alternativen zu den durch zwei Weltkriege desavouierten Begriffen »Nationalismus« und »Kapitalismus«. Zunächst wurde die »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) erfunden, weitgehend noch nach den Vorkriegsentwürfen von »Paneuropa«, der Kapitalismus mutierte zur »Sozialen Marktwirtschaft«, aus der bisherigen Klassengesellschaft wurde eine »Sozialpartnerschaft«, die sich zu »Konzertierten Aktionen« zusammenfand und so weiter und so fort – eine neue Zeit schien anzubrechen. Schon während des Nachkriegsaufschwungs (noch »Restauration« genannt) wurde die Bundesrepublik Deutschland rasch zur stärksten Industriemacht in Europa. Dieses sogenannte Wirtschaftswunder basierte auch auf den immensen Kriegsprofiten der Großindustrie (nicht zuletzt aus der jahrelangen Zwangsarbeit von Millionen Europäern entstanden), auf den in London 1953 erlassenen und teilweise gestundeten Kriegsschulden und Reparationen aus zwei Weltkriegen und einer von den Bombardements weitgehend verschont gebliebenen modernen Schwerindustrie. Der propagandistisch fortgeführte Antikommunismus wurde als »Anti-Totalitarismus« verbrämt, die KPD 1956 verboten, und die SPD-Opposition hatte sich spätestens seit 1959 (Bad Godesberg) auch politisch einbinden lassen und durfte bald auch als Juniorpartner mitregieren.

 

Unter den anderen EWG-Mitgliedsstaaten, die unter weniger günstigen Bedingungen produzierten, in denen die tradierten Klassengegensätze noch wesentlich schärfer zutage traten und auch ideologisch noch längst nicht bereinigt waren, gab es erhebliche Vorbehalte gegenüber dem »Modell Deutschland«. Kritik am Zustand der Gemeinschaft Ende der 70er Jahre formulierte beispielsweise der damalige Vorsitzende der französischen Sozialistischen Partei, François Mitterrand: »Wir akzeptieren nicht das bestehende Europa der Kapitalisten, der Monopole und der Technokraten.« (Süddeutsche Zeitung, 10.9.1978)

 

Denn der enorme Konzentrations- und Zentralisierungsprozess in der BRD-Wirtschaft stellte schon damals eine erhebliche Hypothek für ein wirtschaftliches Miteinander in Europa dar: Acht deutsche Gruppen (VW, Daimler-Benz, Hoechst, Bayer, Siemens, AEG Telefunken, Bosch, VEBA) gehörten bereits zu den größten multinationalen Konzernen der Welt, hinter zwanzig US-Konzernen, aber weit vor England, Frankreich und Italien (mit nur drei und zwei Konzernen; siehe Le monde diplomatique, Juni 1977).

 

Der Ökonom Wilhelm Hankel hielt damals fest: »Der Zahlungsbilanzüberschuss der BRD im EWS [Europäisches Währungssystem, S. B.-K.], der alle EWS-Partner mit hartem Finanzzwang in die DM-Anpassung treibt, bestimmt damit in Wahrheit, welches Wachstums-, Stabilitäts- und Beschäftigungsklima in ganz Europa herrscht. Der DM-Mangel aller anderen Partner macht aus der BRD nicht nur den ›unfreiwilligen‹ Zentralbankier, sondern – politisch noch gefährlicher – den ›Shylock‹: Eine wirtschaftliche Großmacht, die jeder braucht und keiner liebt.« (Frankfurter Rundschau, 10.3.1979) Dieser Hinweis auf die aus dem Exportüberschuss schon vor vierzig Jahren resultierende Rolle der BRD deutet schon auf das heutige Dilemma, das durch die Einführung des Euro als DM-Ersatz in sehr unterschiedliche Volkswirtschaften nur noch verstärkt wurde.

 

 

Von der sozialen Marktwirtschaft zu den neoliberalen Märkten

Das neoliberale Paradigma, das seit den 70er Jahren auch die ideologischen Begriffe der Nachkriegsphase veränderte, verkürzte nun die keineswegs europaweit voll entwickelte »soziale« Marktwirtschaft schlicht in »die Märkte«. Die umschreiben heute längst unpopuläre Begriffe wie Kapitalisten oder Kapitalismus. In Europa sind es heute abstrakt »die Märkte« (das heißt die EU-Kommission und die Lobbys der multinationalen Konzerne), die »die Reformen« fordern, jene neoliberale Komprimierung der Löhne, Rechte und Sozialstrukturen zugunsten eines europaweit geforderten Wachstums des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dieses BIP stagniert allerdings aufgrund der verstärkten Polarisierung unter den inzwischen 27 Mitgliedsstaaten seit langem, denn die Kernzone der EU um Deutschland hat durch ihre massiven Exportüberschüsse innerhalb der EU selbst die Defizitländer an den Rand gedrängt. Die bald nach der Bankenkrise von 2007/08 initiierten Austeritätsprogramme unter direktem (zum Beispiel Griechenland) oder indirektem (zum Beispiel Italien) Einfluss der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds höhlten nach und nach die sozialen Sicherungssysteme in den Bereichen Bildung, Gesundheit, arbeitsrechtliche Normen und Lohngarantien aus. Das erhöhte die Massenarbeitslosigkeit, ließ den privaten Konsum einbrechen bis hin zur wirtschaftlichen Depression – nicht nur an der Peripherie, sondern auch in Großbritannien, Frankreich und Italien, also bei den Mitbegründern des europäischen Projektes. Die Folgen liegen vor aller Augen: Brexit, bürgerkriegsähnliche Massenproteste in Frankreich und eine rechtspopulistische Regierung in Italien, die einen zwar wirtschaftlich nicht zielführenden Haushaltsentwurf für 2019 bis 2021 vorgelegt hat, der aber nicht deshalb von Brüssel zurückgewiesen wurde, sondern weil er die italienischen Staatsschulden weiter erhöhen wird (letztlich um wenige Milliarden), was die Banken, die diese Schulden halten, destabilisieren und was wiederum »die Märkte« verstören könnte.

 

 

Die Strangulierung Italiens

Beachtenswert ist allerdings, dass sich die Staatsschulden während der verschiedenen Regierungen Italiens seit 2011, die mehr oder weniger direkt von Brüssel miteingesetzt wurden, gerade durch die von ihnen durchgeführten Sparmaßnahmen massiv erhöht haben. Das liegt und lag in erster Linie an dem hohen Zinsdienst für die Staatsschuld. Er machte mit etwa 700 Millionen Euro allein in den letzten zehn Jahren fast ein Drittel der heutigen Gesamtschulden aus. Solche Summen übersteigen jeden ansonsten in Italien ausgeglichenen Primärhaushalt erheblich und können gar nicht ohne Neuverschuldung geschultert werden. Anstatt endlich auf EU-Ebene Mechanismen einzuführen, welche die durch diese EU-Politik verursachten und durch den Euro verschärften Ungleichheiten abbauen und den Schuldendienst entlasten können, drohte Brüssel mit der Anwendung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der dem Land massive Strafgelder und weitere Privatisierungen auferlegen und es strangulieren würde. Somit war abzusehen, dass die Regierung Conte beim Haushaltsentwurf am Jahresende – unter Ausschaltung des Parlaments – klein beigeben und die bisher sowieso nur vage skizzierten sozialen Maßnahmen vertagen und verwässern würde. Beim schier endlosen, demütigenden Feilschen um Werte hinter dem Komma (von 1,6 über 2,4 zu 2,04 Prozent) bei der Neuverschuldung drängte sich zuletzt ein Vergleich zur Brüsseler Haltung gegenüber Präsident Macron auf, dessen finanzielle Konzessionen an das aufgebrachte Volk der Gelbwesten die berüchtigte 3-Prozent-Marke erneut überschreiten dürften. Doch Frankreich ist nicht Italien, und das wiederum ist nicht Griechenland, man misst mit verschiedenen Maßstäben. Brüssel und Berlin wird neben der ökonomischen auch eine politische Verantwortung für all das angelastet, was die Populisten nicht nur in Italien weiter stärken dürfte. Die Europawahl im Mai wird es zeigen.

 

 

Ausverkauf Griechenlands

Der im Sommer 2015 von der Troika durchgeführte Angriff auf Griechenlands Souveränität, der dem Land folgenschwerste Spar- und Privatisierungsprogramme auferlegte, wurde in den Sozialen Medien damals schlicht als Staatsstreich bezeichnet: »This is a coup.« Als Griechenland Ende August 2018 aus dem schon seit 2010 währenden Zwangsregime nun wieder in die Freiheit der Kapitalmärkte entlassen wurde (weiterhin unter Brüsseler Aufsicht), nachdem es angeblich wirtschaftlich erholt wieder auf eigenen Beinen stehen könne, wie die Medien berichteten, eröffnete sich jedoch aus der Nähe ein anderes Szenario: Die dramatischen Folgen der seit 2010 unter den verschiedenen griechischen Regierungen von rechts bis links durchgezogenen Sparmaßnahmen sind in dem Anfang November 2018 erschienenen Bericht der Menschenrechtskommission des Europarates nachzulesen: Löhne und Renten liegen großenteils unter dem Armutsniveau. Obdachlosigkeit, Selbstmorde, psychische Krankheiten haben massiv zugenommen, das Gesundheitswesen ist völlig unterfinanziert und in vielen Bereichen dem Kollaps nahe. Schon im September 2018 hatte der griechische Archäologenverband beklagt, dass die Regierung sogar so wichtige Kulturstätten wie den Palast von Knossos, Ausgrabungen in Sparta und das byzantinische Museum von Thessaloniki mit in den großen Privatisierungsfonds der griechischen Staatsgüter, der Hunderte von Objekten umfasst, aufnehmen wolle. Als Le Figaro darüber berichtete, dementierten die zuständigen Ministerien, es handele sich wohl um ein Versehen. Doch die griechische Treuhandgesellschaft hat in den letzten Jahren schon viele wichtige Teile der Infrastruktur des Landes »privatisiert«, was auf Deutsch so viel heißt wie »geraubt«. Der Dokumentarfilmer Aris Chatzistefanou (Filme wie »Debtocracy« und »Catastroika«) hat 2016 in »This is not a coup« aber deutlich aufgezeigt, dass es sich bei all diesen Maßnahmen keineswegs um autoritäre Verstöße gegen EU-Regeln handelt, sondern um das normale Vorgehen der EU-Finanzgremien, bei denen eben die Interessen der Investmentbanken im Vordergrund stehen und nicht die der Menschen.

 

Wenn sich daran nichts ändert, ist die künftige weitere Verarmung in Europa nicht aufzuhalten. Soziale Proteste werden anwachsen, aber politische Kräfte, die jene »europäische Föderation« gleichberechtigter Staaten, durchsetzen könnten, die als »egalitäres Europa« den europäischen Antifaschisten der 1940er Jahre vorschwebte, sind nicht in Sicht, sondern nur die Nachkommen der gefährlichen Vereinfacher, die Europa in einen Zweiten Weltkrieg führten.

 

»Die Katastrophe verhindern« forderte schon vor Jahren die gleichnamige Flugschrift von Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou (Nautilus, 2013), sie bleibt hochaktuell.