erstellt mit easyCMS
Titel120

Schandgeld  (Ulla Jelpke)

Wie schäbig Deutschland mit NS-Opfern umgeht, ist in Ossietzky schon mehrfach beschrieben worden: Hunderttausenden von ihnen wurde nach der Befreiung vom Faschismus jegliche Entschädigung verwehrt. Umso großzügiger dagegen behandelt die Bundesrepublik jene, die sich auf die Seite Nazi-Deutschlands geschlagen hatten: Zu Tausenden wurden selbst jenen unter ihnen monatliche Leistungen bewilligt, denen sie wegen ihrer Verstrickung in Kriegsverbrechen eigentlich gestrichen werden müssten. Dazu gehören auch ausländische Kollaborateure. Das hat nun das belgische Parlament auf den Plan gerufen, das den Stopp dieser Zahlungen verlangt.

 

Das Problem ist nicht neu. In den 1990er Jahren wurde bekannt, dass in den baltischen Staaten Personen, die während der deutschen Besatzung freiwillig den lettischen beziehungsweise estnischen Waffen-SS-Verbänden beigetreten waren, »Renten« aus Deutschland beziehen. NS-Opferverbände waren zu Recht empört. An der Praxis hat sich seither aber – abgesehen von einem biologisch bedingten Rückgang der Leistungen – kaum etwas geändert. Der Begriff »Renten« ist dabei nicht ganz korrekt: Meist handelt es sich um »Kriegsopferleistungen« nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Gesetz regelt finanzielle Kompensationen für bestimmte Personengruppen, die kriegsbedingt bleibende Gesundheitsschäden erlitten haben. Das können sowohl Zivilisten sein, die zum Beispiel bei alliierten Bombardements zu Schaden kamen, aber auch Soldaten, die im Gefecht oder in Kriegsgefangenschaft verletzt wurden. Die Höhe hängt vom Grad der Versehrtheit ab. Politisch heikel wird es dadurch, dass auch Ausländer die Leistungen beziehen können, wenn sie militärisch kollaboriert hatten. Während des Zweiten Weltkrieges hatten sich zwischen 800.000 und 950.000 ausländische Staatsbürger der Wehrmacht oder der Waffen-SS angeschlossen.

 

Vor 20 Jahren wurde in das BVG ein Passus aufgenommen, mit dem Kriegsverbrecher von den Leistungen ausgeschlossen werden sollten. Das Ergebnis ist weniger als kümmerlich: Von rund einer Million damaligen Leistungsbeziehern wurden gerade einmal 99 die Bezüge gestrichen. Die Versorgungsämter recherchierten nicht umfangreich, wesentliche Quelle waren Listen des Simon Wiesenthal Center (SWC). Darauf zieht sich die Bundesregierung bis heute zurück: Besser als auf diese anerkannte Institution von »Nazi-Jägern« zurückzugreifen, habe man es doch gar nicht machen können.

 

Hätte man schon. Es war nämlich nicht so, dass das SWC die Namen der Empfänger erhalten hat. Da war der Datenschutz vor. Die Versorgungsämter bekamen die SWC-Listen und verglichen sie mit ihren eigenen – und das offenbar eher weniger akkurat. Denn knapp 17 Jahre später ging aus einer Studie hervor, dass Tausende von Leistungsempfängern ihr Geld weiter erhielten, obwohl sie auf den SWC-Listen standen. Der Historiker Stefan Klemp rechnete hoch, dass noch im Jahr 2015 unter den 150.000 Leistungsempfängern 7500 Personen waren, denen man die Leistungen hätte entziehen können.

 

Es ist eher verwunderlich, dass man im Ausland die Regelung bislang praktisch widerspruchslos hingenommen hat: Immerhin werden ja Personen finanziell belohnt, die sich im Krieg auf die Seite der Besatzer, des Feindes, geschlagen haben. Im Baltikum mag das daran liegen, dass die SS-Freiwilligen als »Kämpfer gegen den Bolschewismus« allemal mehr Sympathie genießen als ehemalige Rotarmisten.

 

Zumindest in Westeuropa regt sich seit einigen Monaten ein gewisser Unmut. Voran preschte das belgische Parlament: Im März 2019 verabschiedete es mit einer Dreiviertelmehrheit eine Resolution, die festhält, dass die Gewährung von Leistungen »für die Kollaboration mit einem der mörderischsten Regime der Geschichte« in Widerspruch zur Erinnerungs- und Friedensarbeit stehe. Das Parlament fordert den Stopp der Leistungen und die Einrichtung einer wissenschaftlichen Kommission, um Umfang und konkrete Personen aufzuklären, die heute oder in der Vergangenheit diese Leistungen in Belgien erhalten haben. Auch in der Schweiz und in Frankreich gab es politische Initiativen in diese Richtung, wenn auch längst nicht so entschlossene. Von einem »Schandgeld« sprach die französische Tageszeitung Le Monde, das Verteidigungsministerium in Paris zeigte sich verärgert über das »undurchsichtige« Gebaren Deutschlands. Selbst die Bild-Zeitung witterte einen Skandal und titelte aufgeregt: »Weltweit bekommen noch 2033 Senioren Hitler-Rente«. Die Zahl ging auf Informationen des Bundessozialministeriums zurück. Im Mai 2019 teilte die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion aktualisierte Zahlen mit, wonach damals 998 »Beschädigte« (also Kriegsversehrte) im Ausland Leistungen erhielten, außerdem 936 Hinterbliebene. Die durchschnittliche Leistungshöhe wurde mit 472 Euro angegeben. Das ist, nebenbei bemerkt, weit mehr, als Deutschland für Überlebende des Holocaust ausgibt.

 

Der eigentlich spannenden Frage aber, wie viele dieser Empfänger im Zweiten Weltkrieg nun als Zivilisten oder als Soldaten beziehungsweise gar freiwillige Waffen-SS-Mitglieder verletzt worden sind, weichen deutsche Behörden seit Jahrzehnten aus. Die Umsetzung des BVG sei Ländersache, da habe der Bund keinen Einblick. Die Linksfraktion im Bundestag regte deswegen die Linksfraktionen in den Ländern an, nachzuhaken. Auch dort größtenteils Schweigen. Exemplarisch die Antwort des Hamburger Senats: Man überweise (Stand Juni 2019) monatlich an 67 Beschädigte im Ausland Leistungen. 26 von ihnen waren 1945 noch Kinder. Auf die Frage, wie viele der übrigen 41 Personen bei der Waffen-SS gedient hatten, gab der Senat allen Ernstes zur Antwort, das könne man nicht sagen, weil dazu »sämtliche mehrbändigen Einzelakten von allen zuständigen Stellen gesichtet und ausgewertet werden müssten, zuzüglich der Anforderung der Akten und dem Transport aus dem Aktenlager«. Akten zu 41 Personen aus dem Lager zu holen und zu sichten – für eine deutsche Behörde ist das also eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Jedenfalls, wenn es darum geht, SS-Verbrecher zu identifizieren und ihnen ihr monatliches Salär zu streichen.

Interessant, dass die gleiche Frage von der Regierung des Saarlandes, das für Leistungsempfänger in Frankreich zuständig ist, sehr wohl beantwortet werden konnte: Demzufolge gehören zu den dortigen Empfängern vier ehemalige Waffen-SS-Angehörige. Dazu zählen drei Franzosen, von denen einer in der Division Charlemagne war; außerdem ein Deutscher, der in einer SS-Kavallerieeinheit diente.

 

In Bezug auf Belgien ist bekannt, dass dort 18 Personen mit Leistungen aus Deutschland versorgt werden, unter ihnen ein ehemaliges Waffen-SS-Mitglied. Als das im Frühjahr 2019 herauskam, beeilte sich der deutsche Botschafter zu versichern, alle Personen seien von den deutschen Behörden »wiederholt« kontrolliert worden. Auf Nachfrage der Linken im Bundestag, wie oft und wie intensiv genau, ruderte die Bundesregierung prompt zurück: Das sei Ländersache, da lägen der Bundesregierung »keine Kenntnisse« vor – die Behauptung war also nur ein Manöver der Botschaft, um die belgische Öffentlichkeit zu beschwichtigen.

 

In einigen Fällen geht es tatsächlich auch im juristischen Sinne um eine Rente: »Der Dienst von sogenannten Hilfswilligen innerhalb der Wehrmacht oder der Waffen-SS sowie der Dienst in der sogenannten Wlassow-Armee beziehungsweise der Ukrainischen Befreiungsarmee [einer Ausgliederung der Waffen-SS, U. J.] kann als Ersatzzeit berücksichtigt werden«, so die Bundesregierung. Es gibt also für diese Kollaborateure nicht direkt Rente, aber der Dienst wird im Rentenverlauf berücksichtigt, ebenso die Dauer etwaiger Kriegsgefangenschaft (Strafhaft im Ausland wegen NS-Verbrechen hingegen, offiziell, nicht). Eine richtige Rente kann nur beanspruchen, wer »hauptberuflich« für Wehrmacht oder Waffen-SS tätig war; darunter dürften nur sehr wenige Ausländer gewesen sein.

 

Als die Linksfraktion anfragte, ob unter den in Belgien lebenden Empfängern von Rentenbezügen Personen seien, denen Beitragszeiten oder Zeiten fiktiver Nachversicherung für den freiwilligen Dienst in Wehrmacht oder Waffen-SS angerechnet werden, gab die Bundesregierung zur Antwort: Auch das wisse man nicht. »Die Kenntnis darüber, ob Personen einen freiwilligen Dienst in der Waffen-SS geleistet haben, ist für die Anwendung der rentenrechtlichen Regelungen nicht erforderlich.« Und aus Datenschutzgründen dürfe man das auch gar nicht erforschen.

 

Die Linke hat, inspiriert von der Resolution des belgischen Parlaments, einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der unter anderem fordert, Leistungen an ehemalige freiwillige Waffen-SS-Angehörige einzustellen. Es war überlegt worden, diese Forderung auch auf ehemalige freiwillige Wehrmachtsangehörige auszudehnen, die schließlich auch unzählige Verbrechen begangen hatten. Das würde aber eine Abwägung erfordern mit dem Umstand, dass sich manche »freiwillig« zu einem Dienst in der Wehrmacht verpflichtet hatten, um einer schlimmeren Alternative zu entgehen. Die Waffen-SS hingegen war definitiv kein Refugium, sondern, wie vom Nürnberger Tribunal festgestellt, eine verbrecherische Organisation. Die Linke verzichtet in ihrem Antrag darauf, den Leistungsentzug nur auf ausländische SS-Mitglieder zu beziehen, denn warum sollten deutsche Täter besser gestellt werden?

 

Außerdem fordert der Antrag, dem belgischen Wunsch nach einer wissenschaftlichen Untersuchung zuzustimmen und Möglichkeiten zu prüfen, ausländischen Behörden Daten zu übermitteln, die sie in die Lage versetzen, die deutschen Leistungen an bei ihnen lebende SS-Veteranen zu besteuern oder gar einzuziehen. In Belgien hat der Antrag bei Grünen, Sozialdemokraten und Linksliberalen ein positives Echo hervorgerufen, die Partei DéFi (Démocrate Fédéraliste Indépendant), die die Resolution des belgischen Parlaments initiiert hatte, forderte die anderen belgischen Parteien auf, bei ihren jeweiligen Kollegen in Deutschland sich dafür einzusetzen, den Antrag der Linken zu unterstützen.

 

Entschieden ist noch nichts. Aber klar ist schon jetzt: Das Missverhältnis zwischen der Knausrigkeit gegenüber NS-Opfern und der Großzügigkeit gegenüber dem Kreis der Täter ist offensichtlich, ebenso der seit Jahrzehnten vorherrschende Unwille, den Täterkreis genauer zu sichten. Beides ist ein Armutszeugnis für die angeblich ach so umsichtige Aufarbeitung der Geschichte in Deutschland. Und es ist eine Schande, dass es für solch einen Antrag erst einen Anstoß auf dem Ausland braucht.

 

Die erwähnte Studie zur (Nicht-)Umsetzung von § 1a BVG findet sich hier: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb472-schlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3