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Titel120

Spiegel-Gate(s) – der journalistische GAU  (Oliver Neß)

Seit nun fast einem Jahr fließt das Geld aus Seattle in die Hamburger Hafencity, von der Stiftung des milliardenschweren Atomlobbyisten Bill Gates zum vom Auflagenschwund gebeutelten Spiegel: Und plötzlich titelt die Zeitschrift »Atomkraft? Ja bitte«. Auf sieben Seiten wurde zum Jahresende die Möglichkeit einer »Renaissance der Kernenergie« mittels angeblich innovativer, »neu erfundener« Reaktoren skizziert. Nachdem der Atomausstieg hierzulande als »deutscher Irrweg?« hinterfragt ist, ergeht der Spiegel-Autor sich regelrecht prosaisch: »In einer Welt, die den Klimawandel als Apokalypse beschreibt, wandelt sich die Atomkraft vom Teufelswerk zum rettenden Geschenk der Natur.« Zwar räumt der Schreiber frühere Probleme mit dem »Geschenk der Natur« ein: Sind die bisherigen Atommeiler doch teuer, hinterlassen Unmengen strahlenden Mülls, der eine oder andere ist gar explodiert. Doch das alles war gestern – denn es gebe im Labor nun Atomreaktoren, die all die Nachteile angeblich nicht haben. Und diese Meiler kommen aus dem Hause Gates.

 

Der neue Spiegel-Sponsor scheint im Zuge der Klimadiskussion für sein seit einem Jahrzehnt eher dümpelndes Nuklear-Start-Up »Terrapower« Morgenluft zu wittern. Neuerdings assistiert vom Spiegel-Mann. Der höchstselbst hatte vor neun Jahren – damals finanzierte Gates das hanseatische Medienhaus noch nicht – schon einmal über derlei Reaktormodelle berichtet, auch von Gates »Terrapower«. Seinerzeit aber noch mit vernichtendem Tenor: unwirtschaftlich, unkalkulierbare Proliferation, aus dem »Reich der Phantasie«. Worin ihn zahlreiche Nuklearexperten noch heute bestätigen, wie Astrophysiker Harald Lesch: »Das ist natürlich Teufelstechnik.« Und auch der Spiegel-Autor argwöhnte 2010 noch: »Die Atomkraftbranche will sich mit Mini-Meilern in die Zukunft retten.« Heute hingegen legt sich derselbe Schreiber in einem den Artikel ergänzenden Videostatement, das er durchweg mit Animationsmaterial von Gates' »Terrapower« bebildert, sogar persönlich ins Zeug: »Ich glaube, es liegt eine Chance in der Kernenergie, die auch Deutschland nicht auf alle Zeit ungenutzt lassen sollte.« Auf dem Titelblatt versteigt man sich gar noch zu der Schlagzeile »Forscher erfinden das AKW neu« – den eigenen Artikel aus dem Jahr 2010 ignorierend. Reaktorexperte Christoph Pistner erläutert: »So eine Welle an Schlagzeilen kommt leider immer wieder.« Technisch Neues sei nicht dabei: »Die meisten der Konzepte wurden bereits in den 40er, 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts diskutiert.« Der Spiegel lässt ausgerechnet Fachmann Pistner auch zu Wort kommen, aber eben nicht zu den Reaktoren – er würde die fetzige Schlagzeile zunichtemachen. Dutzende so oder ähnlich kreativ modellierte Berichte der Hamburger Zeitschrift führten im vergangenen Jahr dazu, dass eigens eine Art hauseigener Kodex für Spiegel-Schreiber ersonnen wurde. Dessen Ziffer 1 legt, leicht befremdlich weil eigentlich eine Selbstverständlichkeit, im 72. Jahr des Spiegel-Bestehens nun fest: »Die Geschichte muss stimmen.« Was für die Titelzeile vom »neu erfundenen AKW« nachweislich erneut nicht zutrifft.

 

Und mehr noch: Auch der zentrale Kronzeuge des Spiegel für die atomare »Renaissance« ist mindestens überraschend – er ist nicht etwa Physiker, sondern ein Psychologe. Der auf mehr als einer Seite das Wort hat. Unerwähnt bleibt, dass Spiegel- und Atomkraft-Sponsor Gates just diesen Psychologen regelmäßig öffentlich feiert – als »brillanten Denker« oder Autor des »favorite book of all time«, welches Gates selbst sogar digital vertrieben hat. Und just dieser, dem spendablen US-Milliardär offenkundig nahestehende Erforscher des Seelenlebens gibt nun wiederum im Spiegel ausführlich den Universalgelehrten: »Finnland wird mit dem weltweit ersten Endlager zeigen, dass die Lagerung in unterirdischen Stollen sicher sein kann«, weiß der Psychologe weltexklusiv das globale Atommüllproblem gelöst. Tatsächlich haben die Gesteinskammern im hohen Norden nach Betreiberangaben noch nicht einmal eine Betriebsgenehmigung, geschweige dass dort heute auch nur ein Müllfass stehen würde. Physiker Lesch korrigiert entsprechend: »Es gibt kein einziges Endlager auf der Welt.« Im Spiegel ist die Welt mal wieder schlicht eine andere. Und so kann hier der Psychologe auch gleich noch die von seinem Förderer Gates finanzierten Atomreaktoren empfehlen – und ihnen weitreichende Folgewirkungen andichten: »Wenn die Deutschen sehen, dass die Versprechen der erneuerbaren Energien nicht aufgehen, und gleichzeitig kompaktere und günstigere Kernreaktoren marktreif werden, dann kann der Anti-Atom-Konsens schnell wieder infrage stehen.«

 

Für die Entwicklung dieser »kompakteren und günstigeren Reaktoren« hat Gates nach Spiegel-Angaben bereits 500 Millionen Dollar investiert. Ganz so viel Geld lässt der spendable Amerikaner für den Spiegel dann doch nicht springen, wenngleich die Förderung aus Seattle durchaus im Millionenbereich liegen soll, heißt es im Verlag in der Hafencity hinter vorgehaltener Hand. Gates' milde Gabe finanziert dem Hamburger Medienhaus nach eigenen Angaben die Arbeit einer damit eigens geschaffenen Abteilung namens »Globale Gesellschaft«. Deren »neue Stellen stärken unsere Auslandsberichterstattung«, frohlockte man beim Spiegel im Frühjahr 2019. Ahnte aber auch bereits, dass die großzügige Finanzspritze des amerikanischen Atomenthusiasten delikat ist: Einer der Redaktionschefs betonte, dass »die redaktionellen Inhalte ohne Einfluss durch die Stiftung entstehen«. So bestätigt der neueste Atom-Aufmacher erneut Hans-Magnus Enzensberger, mehr als 60 Jahre nach dessen Abhandlung »Die Sprache des Spiegel«: »Sein [des Spiegels, d. Red.] Verfahren ist im Grunde unredlich […]. Zwischen der simplen Richtigkeit der Nachricht, die er verschmäht, und der höheren Wahrheit der echten Erzählung, die ihm verschlossen bleibt, muss er sich durchmogeln. Er muss die Fakten interpretieren, anordnen, modeln, arrangieren: aber eben dies darf er nicht zugeben.« Seinerzeit sollten derlei phantasievolle Exzesse noch dem Leser besser gefallen – heute offenbar vermögenden Sponsoren.