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EU enträtseln: Auslaufmodell Staatsgewalt?  (Johann-Günther König)

Am 25. Mai findet die »Europawahl« statt. In einer Artikelserie, begonnen in Ossietzky 9/14, nimmt Johann-Günther König die Europäische Union ins Visier.

Alle Bürgerinnen und Bürger der 28 Mitgliedstaaten sind der EU rechtlich mehr verbunden, als wohl vielen bewußt ist. Deutsche Staatsbürger zum Beispiel stehen nicht mehr mit den legendären beiden Beinen auf dem Grundgesetz, sondern nur mehr mit einem. Denn mit dem anderen stehen sie längst auf dem EU-Vertragsrecht. Das Grundgesetz selbst läßt daran keinen Zweifel. Artikel 23 sagt: »Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit […]. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.« In Artikel 79 GG ist festgelegt, daß Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes der »Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates« bedürfen. Und noch etwas: Das seit 1949 bereits mehr als 50 Mal mit Änderungsgesetzen versehene deutsche Grundgesetz hat keine Ewigkeitsgarantie – es verliert gemäß Artikel 146 »seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«. Es könnte auch eine unionseuropäische sein. Rein verfassungsrechtlich geht in der Bundesrepublik »alle Staatsgewalt vom Volke aus«. In anderen EU-Mitgliedstaaten nicht minder – etwa: »Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität.« Die französische Verfassung postuliert nachgerade demokratisch lehrbuchhaft: »Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk«. Wie aber verhält es sich mit der Europäischen Union? Sie hat kein homogenes, durch eine gemeinsame Identität und Sprache geprägtes Volk, sondern viele Völker, die sich – trotz aller kultureller Differenzen – zwar als »ein europäisches Vielvölkervolk« verstehen könnten, es aber bislang nicht tun. Vielleicht schon deshalb, weil dem unionierten Vielvölkervolk keine Unionsgewalt und keine demokratische Regierungsbildung gewährt wird.

Der vornehmste Auftrag der politischen Akteurinnen und Akteure sollte mindestens darin bestehen, im Dialog mit dem passivierten demos die vorgenommenen und geplanten Hoheitsabtretungen an EU-Organe und damit die in den hiesigen Regierungszentralen, Parlamenten und Ausschüssen tendenziell abnehmende souveräne Gestaltungsmacht so zu thematisieren, daß allseits größere Klarheit herrscht. Die geltenden Unions-Verträge bestimmen eindeutig, daß die EU-Organe mittels Gesetzen tief in die Lebensverhältnisse der Mitgliedvölker eingreifen können. Gesetze im übrigen, die zunehmend durch Mehrheitsbeschlüsse zustande kommen, die also von der demokratisch gewählten deutschen Bundesregierung allein nicht torpediert werden können. Die europäischen Integrationsmaßnahmen verliefen bisher als ein stetig vorangetriebener, ausgeprägt marktliberal und zunehmend neoliberal geprägter Prozeß (Economic Governance), der von den politischen Eliten, den europäischen Beamten und Fachleuten sowie Heerscharen von Lobbyisten gleichsam im Alleingang an der Öffentlichkeit vorbei betrieben wurde und wird. Was dabei herauskommt, ist augenfällig: ein stetiger Abbau sozialer Errungenschaften bei gleichzeitiger Ausdünnung und Aushebelung demokratischer Standards.

Zigtausende Gesetze, die inzwischen das Leben von uns unionseuropäischen Bürgerinnen und Bürger bestimmen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten in Brüssel sogar ohne jegliche parlamentarische Grundlage erlassen. Denn die Gemeinschaftsbildung, deren verwaltungstechnische Dimensionen die Bauherren seit den 1950er Jahren schwer beschäftigt, erfolgte bis in die 1990er Jahre hinein gänzlich ohne eine demokratisch oder auch föderal gestützte Systematik. Und die Gesetzgebung erfolgte nach dem Muster: Die Kommission legt einen Richtlinien- oder Verordnungsentwurf vor, und der Ministerrat entscheidet. Während die Mitgliedsländer zunehmend Hoheitsrechte auf die Gemeinschaftsebene übertrugen und die demokratisch gewählten nationalen Parlamente entsprechend an Gestaltungsmöglichkeiten verloren, kam das seit 1979 direkt wählbare Europäische Parlament bis 2009 nicht über eine konsultative Rolle hinaus. Seitdem ist es immerhin das einzige Organ der Union, das eine Art demokratischer Legitimation hat, gehen doch alle Abgeordneten aus allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahlen hervor (allerdings je nach mitgliedstaatlichem Wahlsystem entweder durch Verhältnis- oder Mehrheitswahl und mit unterschiedlichen Mindestprozent-Klauseln).

Die Funktion der Kammer erhellt Artikel 14 des Lissabonner Vertrags: Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktionen. Es wählt den Präsidenten der Kommission. Das Europäische Parlament setzt sich aus maximal 750 Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen, zuzüglich des Präsidenten. Die Bürgerinnen und Bürger sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten. Kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze.

Eine parlamentarische Demokratie ist ohne eine durch freie Wahlen legitimierte Herrschaft auf Zeit und das Prinzip der Wahlgleichheit undenkbar. Zum Grundsatz der Wahlgleichheit statuiert das Bundesverfassungsgericht für Wahlen in Deutschland, daß die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muß. Bei EU-Parlamentswahlen kommt dieser Grundsatz der Wahlgleichheit jedoch nicht zum Tragen, sind bei der Sitzverteilung die Unionsbürgerinnen und -bürger großer Länder doch deutlich ungleicher als die von kleineren repräsentiert. Während zum Beispiel eine oder ein maltesischer Abgeordnete/r rund 70.000 Bürger vertritt, entfallen auf eine oder einen französischen oder deutschen mehr als zehn Mal so viele. Grundsätzlich ist das EU-Parlament in dreierlei Hinsicht gehandicapt. Erstens beteiligte sich bei der Europawahl 2009 nicht einmal die Hälfte der wahlberechtigten EU-Bevölkerung an den Wahlen, was demokratisch bedenklich ist. Zweitens fehlt dem Parlament die für die Demokratie unerläßliche politische Öffentlichkeit. Eine europäische Öffentlichkeit, die die bestehenden, politisch, kulturell und sprachlich spezifisch geprägten mitgliedstaatlichen Teilöffentlichkeiten zumindest ergänzen, wenn nicht tendenziell überflüssig machen könnte, hat sich bis heute nicht ansatzweise formiert. (Von der kosmopolitischen Elite einmal abgesehen, die in Straßburg, Brüssel, Berlin, Paris, London, Luxemburg, Frankfurt und andernorts agiert.) Drittens läßt das EU-Parlament genau das vermissen, was herkömmlich nationalstaatliche Parlamente auszeichnet: eine deutliche Unterscheidbarkeit von Regierung und Opposition.

Die Bürgerkammer der EU ist nüchtern betrachtet kein echtes Parlament – es kann ja nicht einmal eine Unionsregierung wählen oder auch abwählen. Denn offiziell hat die Europäische Union keine Regierung, was den Nachvollzug der Machtverhältnisse nicht gerade erleichtert. Inoffiziell können der Europäische Rat (der Staats- und Regierungschefs), der (Minister-) Rat der EU, die sogenannte Eurogruppe (gebildet aus den Finanzministern der Euroländer) und die EU-Kommission als Regierungsteam aufgefaßt werden. Sie bilden eine nachgerade unheimliche Macht, die weder direkt von den Unionseuropäerinnen und -europäern, noch von deren Repräsentanten, den Abgeordneten im EU-Parlament, gewählt oder abgewählt werden kann. Und weil es in der Union gezielt verschachtelt zugeht, sei hinzugefügt, daß das Parlament zwar der Zusammensetzung des Kolle-giums einer durch den Rat neu aufgestellten EU-Kommission zustimmen muß und das Kollegium durch ein Mißtrauensvotum von zwei Dritteln der Abgeordnetenstimmen auch abberufen kann. Aber die Kommission geht ebenso wenig aus dem Parlament hervor wie der Rat und Europäische Rat. Auch wenn dieses Jahr die europäischen Parteienbünde – die SPE der Sozialdemokraten, die europäischen Linken und Grünen, die konservative Europäische Volkspartei (EVP) sowie die Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) das erste Mal mit Spitzenkandidaten antreten – ändert das an der undemokratischen Konfiguration der EU nichts.

In der vielfältigen Parteienlandschaft eines jeden EU-Mitgliedstaates gibt es gegenwärtig keine ausreichend starken – und sich über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus bündelnden – Kräfte, die auf einen Umbau, eine demokratische Neubegründung der EU und auf eine sozialökologische Korrektur der marktradikalen und durchneoliberalisierten Unionspolitik drängen. Eine supranationale zivilgesellschaftliche Massenbewegung, die unter dem Banner: »Das Unionsvolk sind wir« auf Mitsprache und Mitbestimmung bei den grundlegenden Fragen des europäischen Fortschritts drängt, hat sich bislang nicht etabliert. »Europawahl« hin oder her – werden ausgerechnet die an den vielfältigen unionseuropäischen Schaltstellen werkelnden Akteurinnen und Akteure die EU nach der Wahl so radikal umbauen, daß sie fortan eine menschendienliche Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Kultur- und Bildungspolitik ermöglicht und betreibt? Wohl kaum. Immerhin haben sie das Krisendilemma und die unmenschliche Austeritätspolitik zu verantworten. Eine Änderung ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil weder die strangulierende Troika noch der krisenverschärfende Fiskalpakt vom – ohnehin bürgerlich dominierten – EU-Parlament kontrolliert beziehungsweise ausgehebelt werden kann. Aber das ist eine Geschichte für sich.

Dieser Beitrag beruht auf dem neuen Buch von Rudolf Hickel und Johann-Günther König: »EURO stabilisieren. EU demokratisieren. Aus den Krisen lernen«, Kellner Verlag, 288 Seiten, 16,90 €.