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Türkei kommt nicht zur Ruhe  (Wolfgang Ehmke)

Es waren zwar »nur« Kommunalwahlen, aber die hatten es in sich. Rund 53 Millionen Menschen waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Trotz der Korruptionsvorwürfe, der Medienzensur und der Kriegsdrohungen gegen Syrien ging die islamisch-konservative Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Kommunalwahlen Ende März mit 45,6 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervor. Gegenüber den Kommunalwahlen vor fünf Jahren ist dies ein deutlicher Zugewinn. Das Ergebnis wird Erdoğan beflügeln, im Juni für die Wahl als Staatspräsident anzutreten. »Das Volk hat heute die hinterhältigen Pläne und unmoralischen Fallen durchkreuzt«, verkündete Erdoğan nach dem Wahlerfolg vor Tausenden jubelnder Anhänger in Ankara. An die Adresse seines Gegners im eigenen Lager, des Predigers Fethullah Gülen, richtete er eine unverhohlene Drohung: »Es wird keinen Staat im Staate geben, die Stunde ist gekommen, sie zu beseitigen.« Beobachter rechnen nun mit Massenverhaftungen von als Gülen-Anhänger bekannten Journalisten und Beamten. Eine aufgebrachte Menschenmenge demonstrierte vor dem Redaktionssitz der mächtigen Tageszeitung Zaman, die als Sprachrohr der Gülen-Bewegung gilt. Staatsanwälten und Richtern, die nach bekannt gewordenen Korruptionsvorwürfen Hausdurchsuchungen bei AKP-Politikern angeordnet hatten, hatte Erdoğan eine verschwörerische Verbindung zur Gülen-Bewegung unterstellt.

Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) konnte ihre Hochburgen wie Izmir an der Ägäis zwar verteidigen, aber aus dem Zwist zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung und trotz der Empörung über das zunehmend autoritäre Gebaren Erdoğans keine nennenswerten Stimmengewinne verbuchen. Die CHP kam landesweit nur auf einen Schnitt von rund 26 Prozent. In Ankara unterlag CHP-Kandidat Mansur Yavaş – ein ehemaliger rechtsradikaler MHP-Mann – in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit weniger als einem Prozentpunkt gegenüber AKP-Amtsinhaber Mehli Gökçek. (MHP – Milliyetçi Hareket Partisi, deutsch: Partei der Nationalistischen Bewegung) In Istanbul siegte der bisherige AKP-Oberbürgermeister Kadir Topbaş klar vor seinem CHP-Herausforderer.

»Kurdistan votierte für die demokratische Autonomie«, kommentierte die Nachrichtenagentur Firat das gute Abschneiden der für regionale Selbstverwaltung eintretenden links-kurdischen Partei für Demokratie und Frieden (BDP). Diese regiert mit den der AKP abgenommenen Städten Bitlis und Mardin nun ein weitgehend zusammenhängendes Gebiet von elf Provinzen im Südosten der Türkei. In Ağrı wird es jedoch zu einer Wahlwiederholung kommen. Dort wurde fünfzehn Mal ausgezählt, immer wenn der BDP-Kandidat vorn lag, protestierte die AKP. Zusammen mit der pro-kurdischen HDP kommen die Parteien landesweit auf 6,1 Prozent der Wählerstimmen.

Proteste gegen Wahlfälschungen kommen aus allen Lagern
Eine herbe Schlappe mußte die AKP im Istanbuler Bezirk Kartal hinnehmen. Nach der Neuauszählung betrug der Rückstand zur CHP nicht mehr nur 5600, sondern gleich 6000 Voten. Die staatliche Wahlbehörde (YSK) prüft und kündigt weitere Neuauszählungen an. Vor allem der Ausgang in der Hauptstadt Ankara wurde mit Spannung erwartet. Dort fiel am Wahlabend der Strom aus. Eine Katze in einem Umspannwerk soll die Ursache dafür gewesen sein. Mit Wasserwerfern ging die Polizei gegen protestierende CHP-Anhänger vor, doch eine Wahlwiederholung wird es nicht geben. Als Bürgermeister wurde der AKP-Mann Melih Gökçek vereidigt.

Im ganzen Land wurden am Wahlabend in rund 8000 Protokollen Unregelmäßigkeiten festgehalten. So sind nachträglich Stimmen für die AKP eingetragen oder ausgefüllte Wahlzettel mit Voten für die CHP und MHP in Mülltonnen gefunden worden. Die Wahlhelfer der Oppositionsparteien haben außerdem die unterschriebenen Wahlprotokolle abfotografiert und mit den eingetragenen Ergebnissen im Computersystem der Wahlbehörde verglichen. Allein in Istanbul hat die CHP dabei 3500 Abweichungen zum Nachteil ihres Kandidaten Mustafa Sarıgül festgestellt.

Die rechtsradikale MHP erhob schwere Vorwürfe in der Stadt Kocaeli. Demnach sollen 117.000 Menschen gewählt haben, die überhaupt keine Anschrift in der 1,7 Millionen Einwohner zählenden Stadt haben. »Das ist offener Betrug«, wetterte MHP-Politiker Aydın Ünlü. Die AKP habe auf diese Weise mit 50,6 Prozent der Stimmen gewonnen.

Das Licht geht aus
Besonders in kurdischen Gebieten war die Wahl mit Spannung erwartet worden. Die BDP strebt in der Region eine Selbstverwaltung an und konnte in der »Hauptstadt Kurdistans«, in Diyarbakir, mit ihrer Spitzenkandidatin Gültan Kişanak erwartungsgemäß 55,1 Prozent der abgegebenen Stimmen einfahren. Ihr Wahlprogramm spannt den Bogen von Sozialarbeit, Parks, Verkehrsplanung, Behindertenrechten bis hin zu regenerativen Energien. Die BDP hat durchgehend Doppelspitzen in den Wahlkampf geschickt, einen Kandidaten und eine Kandidatin. In einer Millionenstadt ist das weniger problematisch, in kleineren Gemeinden mit traditionellen Strukturen schon ein Wagnis. Wie verhaßt die CHP in kurdischen Regionen ist, läßt sich am Ergebnis in Diyarbakir ablesen: Sie kam auf 1,2 Prozent. Die CHP gilt für die Kurden als Partei der Militärs und der Unterdrückung. Wer über Land fährt, sieht warum: Die Region ist militärisch besetzt.

Auf Einladung der BDP waren rund 100 Wahlbeobachter/innen nach Diyarbakır gekommen und nach einem kurzen Briefing am Wahltag in verschiedenen Städten zugegen. Sie berichteten, daß – entgegen gesetzlicher Vorschriften – Polizisten in den Schulen, in denen gewählt wurde, anwesend waren. In ländlichen Regionen waren es die Paramilitärs der Jandarma. Zum Teil wurden Beobachter gehindert, die Schulen zu betreten, zum Teil stellte es keinerlei Problem dar, im Gegenteil, sie wurden freundlich empfangen und konnten feststellen, daß in der Regel die Wahl selbst ruhig verlief: Die Wahlberechtigten waren registriert, die Wahlurnen mit einem Stempel ausgestattet, und die Reihenfolge der Parteien auf den Wahlscheinen war ausgelost worden. Es standen transparente, verplombt Wahlurnen zur Verfügung. In jedem Wahllokal waren Parteienvertreter zugegen, die sich kritisch beäugten, um einer Einflußnahme vorzubeugen.

Der Skandal folgte – wie landesweit in rund 40 Orten – gegen 20 Uhr. In den kurdischen Regionen ging in 16 Orten das Licht aus. Ganz bitter beklagte sich der BDP-Vorsitzende Mehmet Salih Çakar aus Hasankeyf. Dort wurde beobachtet, wie an einem Trafohaus an der Schule Leute auftauchten und dann während des Stromausfalls Zettel durch ein Fenster der Schule, dem Wahlbüro, gereicht wurden. Die AKP gewann hier mit einem Vorsprung von sieben Stimmen. Aus dem Kopf konnte Çakar in der kleinen, aber wegen des umstrittenen Staudammprojekts europaweit bekannten Gemeinde vier Stimmen in Frage stellen: von einem Soldaten, der abkommandiert war, und von einer Familie mit drei Stimmberechtigten, die längst fortgezogen war. Unverändert stemmen sich die Anwohner gegen das Staudammprojekt, bei dem der geschichtsträchtige Ort in den Fluten des Tigris versinken würde. Die BDP will Hasankeyf zum UNESCO-Weltkulturerbe erklären lassen.

Jubel und Verbitterung hielten sich am Tag nach der Wahl die Waage. In der 10.000-Einwohner-Stadt Karakocan wurde ein ehemaliger Gastarbeiter aus Hamburg-Altona Bürgermeister. In Mardin gewann ein unabhängiger kurdischer Kandidat, und die Menschen fuhren jubelnd mit kurdischen Fahnen durch die Stadt. Ganz anders das Bild in Ceylanpınar an der syrischen Grenze: Auch dort ging während der Auszählung das Licht aus, in einem Park wurden zwei Wahlurnen mit verbrannten Wahlscheinen entdeckt. Bis zum »Stromausfall« lag die BDP in Front, danach kippte das Ergebnis. Die Polizei verfügte nach Straßenkämpfen ein tagelanges Demonstrationsverbot, es gab Straßenschlachten und Schwerverletzte, während auf syrischer Seite Solidaritätskundgebungen stattfanden.

Mauerbau
Die türkisch-syrische Grenze ist stark gesichert, die Grenzübergänge sind geschlossen. Flüchtlinge aus Syrien müssen auf illegalen Wegen versuchen, in die Türkei zu fliehen. In Nuseybin wurde sogar eine Mauer errichtet. Bei Ceylanpınar gelangten laut wiederholten Berichten jedoch dschihadistische Kämpfer in das von Kurden besiedelt Gebiet im Nord-Osten Syriens. Die AKP-Regierung unterstützte zumindest bis 2013 die Al-Kaida-Gruppen im Kampf gegen den Aufbau von kurdischen Selbstverwaltungsgebieten in der Region im kurdischen Siedlungsgebiet Rojawa. Von daher hat Ceylanpınar auch eine strategische Bedeutung für die AKP-Regierung – eine Erklärung für die Wahlfälschung und das brutale Vorgehen der Polizei und des Paramilitärs gegen die Demonstranten.

Wolfgang Ehmke hat während der Wahlen und in den Tagen danach in kurdischen Regionen im Rahmen einer Delegationsreise, die vom Linken-Politiker Jan van Aken über das Auswärtige Amt angemeldet wurde, teilgenommen. Wer Interesse an der Dokumentation hat, kann sich bei ihm unter wolfgang-ehmke@t-online.de melden.