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Von Zeit zu Zeit: Doppelt freie Lohnarbeiter  (Stephan Krull)

An den letzten erfolgreichen Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit können sich wohl nur die etwas Älteren erinnern – Ende der 1980er Jahre wurde in der bundesdeutschen Druck-, Metall- und Elektroindustrie nach wochenlangen Streiks die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche vereinbart. Die Arbeitgeber hatten zuvor jegliche Arbeitszeitverkürzung zum Tabu erklärt. Unterstützt wurden sie durch die CDU/FDP-Bundesregierung, deren Kanzler Kohl unser Land zum Freizeitpark und die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für dumm und töricht erklärte.

Die Schlachtordnung im Arbeitszeitkampf – Gewerkschaften gegen Kapital und Kabinett – ist über 200 Jahre alt. Mit der Vertreibung der Bauern von ihren Äckern und der Privatisierung der gemeinschaftlich genutzten Weiden rekrutierten die Fabrikbesitzer ihre Arbeiter: Bettelei und Landstreicherei wurden verboten und mit Arbeitszwang in Zucht- und Arbeitshäusern bestraft. Die Bauern waren frei von Produktionsmitteln und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen: doppelt freie Lohnarbeiter. Es folgten lange Arbeitstage, mit der Glühbirne wurde aber auch die Nacht zum Arbeitstag. Der Kampf um die Begrenzung des Arbeitstages, um den arbeitsfreien Sonntag, um den Zehn-Stunden-Tag, später um den Acht-Stunden-Tag stand so an der Wiege der Arbeiterbewegung. Immer ging es um Autonomie für die Arbeitenden, mehr Zeit für die Familien, für soziale Beziehungen, für Weiterbildung, Gesundheit und Partizipation am gesellschaftlichen Leben.

Und immer wieder die gleiche Schlachtordnung: Die Arbeiterschaft mit ihren politischen und gewerkschaftlichen Organisationen gegen das Kapital, das durch den bürgerlichen Staat, durch Kabinett und Krone massiv unterstützt wurde. Immer wurde der Untergang der jeweils heimischen Wirtschaft im Konkurrenzkampf gegen andere Unternehmen oder Volkswirtschaften beschworen, immer ging es aber nur um noch mehr Macht über Menschen und um Maximalprofite. Oft ging es bei diesen Auseinandersetzungen blutig zu, erbarmungslos schlugen Polizei und Militär auf diejenigen ein, die für ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben kämpften. Am 1. Mai 1886 begann in Chicago ein mehrtägiger, von den Gewerkschaften organisierter Streik mit über 90.000 Teilnehmenden, um eine Verkürzung der täglichen Arbeit von zwölf auf acht Stunden durchzusetzen. Dieser Kampf, der mit einem Massaker der Polizei auf dem Haymarket und Todesurteilen für die Streikführer endete, begründete eine große Tradition der Arbeiterbewegung: Der 1. Mai ist der wichtigste Tag im Kampf um Arbeitszeitverkürzung – jedes Jahr aufs neue!

Im Ergebnis der vernichtenden Niederlage des kaiserlichen und kapitalistischen Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der folgenden Revolution wurde der Acht-Stunden-Tag im November 1918 in Deutschland zum Gesetz erhoben, aber schon 1923 mit Duldung der SPD wieder aufgeweicht durch die Möglichkeit der Verlängerung auf den Zehn-Stunden-Tag. So ist die Gesetzeslage seither und bis heute: regelmäßig acht Stunden an sechs Tagen in der Woche mit der Möglichkeit der Verlängerung auf zehn Stunden, die 48-Stunden-Woche also Regelarbeitszeit mit Ausweitung auf 60 Stunden.

Nur durch gewerkschaftliche Kämpfe und Tarifverträge wurde die wöchentliche Arbeitszeit weiter eingeschränkt – die 40-Stunden-Woche an fünf Werktagen in den 1960er Jahren, die Verlängerung des Urlaubsanspruches in den meisten Tarifgebieten auf 30 Arbeitstage gegenüber einem gesetzlichen Anspruch von 24 Werktagen einschließlich Samstag; und schließlich die 35-Stunden-Woche in einigen Industriebereichen, die in den 1990er Jahren im Westen umgesetzt wurde, deren Umsetzung im Osten jedoch am Widerstand der Unternehmer und am geringen Organisationsgrad der Beschäftigten scheiterte. Von Zeit zu Zeit flackert der Kampf wieder auf – es sieht so aus, als stünde eine neue Runde in dieser Auseinandersetzung an. Nötig wäre sie allemal, denn am Charakter der doppelt freien Lohnarbeit hat sich nichts geändert, die Machtverhältnisse scheinen in Beton gegossen, und die Profite sind ins fast unermeßliche gestiegen.