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Titel1019

Gut verfasst nach 70 Jahren?  (Hans-Jürgen Nagel)

Ende April fand ich im Briefkasten Schwarzrotgold vor, die Nummer 2 des Magazins der Bundesregierung, herausgegeben vom Presse- und Informationsamt. Das Titelblatt plakativ: »70 Jahre Grundgesetz – Artikel I Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

 

Wäre nur dieses Grundrecht Wirklichkeit, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland die beste Verfassung der Welt. Das Land wäre – wie auf der Rückseite verkündet – wirklich »In guter Verfassung. Dank guter Verfassung.«

 

Leider ist dem nicht so. Entgegen aller beschönigenden Worte stellt das Gesetz keine Verfassung dar, sondern eben nur ein Grundgesetz. Es galt 1949 als ausgesprochen und verbrieftes provisorisches Konstrukt. Nach Artikel 146 heute immer noch! Trotz wortreicher gegenteiliger Begründungen.

 

Der eigentliche Souverän, »das gesamte deutsche Volk«, konnte und durfte bisher nämlich nicht entscheiden, wie die – immer noch ausstehende – Verfassung seine Gesellschaft gestalten und die Würde des Menschen in allen Belangen gewährleisten soll. Die Präambel ist einfach nicht stimmig. Die politische und erlebte Wirklichkeit entspricht nicht Artikel 20 (2), wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.

 

Den 61 Vätern und 4 (!) Müttern im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, ist kein Vorwurf zu machen. Mehr den nachfolgenden Generationen. Besonders als 1990 die Chance bestand, das Provisorium endgültig aus der Welt zu schaffen.

 

Nehmen wir Artikel 3 mit dem brisanten Thema Gleichberechtigung. Es dauerte Jahrzehnte, bis FRAU WEST ohne Zustimmung ihres Ehemannes ein eigenes Konto führen oder eine selbstgewählte Arbeit ergreifen konnte. Eine wichtige Ergänzung erfolgte erst am 16. Januar 1992 mit dem Zusatz: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Frauen aus ehemals beiden deutschen Staaten hatten das mit öffentlichem Nachdruck erreicht. Schlicht gesagt: Hier wirkte die Verfassung der DDR nach.

 

Und 2019? Da bemüht das Presse- und Informationsamt auf Seite 4 ausgerechnet die Berufswahl und zeigt eine Frau in Uniform, Dienstgrad Hauptmann. Ein militärischer Beruf für eine Frau ist – trotz aller ethischen und moralischen Bedenken – nichts Besonderes. Als Musterbeispiel taugt er nicht.

 

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, keine Debatten mehr über Frauenquoten in Parteien und Führungspositionen, da GLEICHberechtigung selbstverständlich ist, gute Schulbildung und kein Mangel an Kindergartenplätzen – das und mehr erst schafft Raum, von der puren Proklamation zur Realität zu kommen und die zugegebenen Nachteile zu beseitigen.

 

In welch schlechter Verfassung dieses Land ist, machte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner jüngst auf dem Berliner Parteitag deutlich. Artikel 15 des Grundgesetzes bezeichnete er als Relikt und empfahl die Streichung.

 

Am GG will eben jeder nach Gutdünken herumwerkeln können. Bisher gab es über 60 Änderungen. Diese wäre eine äußerst gravierende. Sie würde dem Gemeinwohl als einem Verfassungsgebot den Garaus machen. Und Art. 14 Abs. 3 gleich mit.

 

Offenbar ist in der ehemals Drei-Punkte-Partei nicht bekannt: Weder Konrad Adenauer als Mitglied der CDU und Vorsitzender des Parlamentarischen Rates noch Theodor Heuss von der FDP und späterer Bundespräsident sowie viele andere hatten jemals sozialistische Ideen. Sie folgten ihren christlichen, ethischen und moralischen Überzeugungen. Genau das geht über einen liberalen Horizont.

 

Ob sich aus einem solch gravierenden Eingriff in verbürgte Grundrechte nicht sogar völkerrechtliche Konsequenzen ergeben könnten? Bis hin zum 4+2-Vertrag, der den Vier-Mächte-Status für beide deutsche Staaten beendete? Das sei den Juristen und dem Bundesverfassungsgericht überlassen.

 

Washington und London hatten nämlich seit 1947 den Rahmen vorgegeben, in dem die westdeutsche Staatsgründung vollzogen werden musste. Paris folgte nolens volens. Moskau war von Anbeginn außen vor gelassen worden und musste als Schwarzer Peter herhalten. Die westlichen Hochkommissare gaben nach Zensur das Grundgesetz frei. Konrad Adenauer durfte es am 23. Mai 1949 verkünden.

 

Allein Entstehung und Geschichte der BRD sprechen Bände. Aber was schon versteht der »dumme Michel« (Heinrich Heine) von der Crux mit dem Grundgesetz?

 

Deshalb die Aufklärung zum Jubiläum, verbrämt mit Blauem Engel und offenbar verschickt an die 41,3 Millionen bundesdeutschen Haushalte. Hierfür spielen Steuergelder keine Rolle.

 

Die Milliarden für Sozialleistungen im Bundeshaushalt 2018 wurden erwähnt.