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Titel1109

Alles im Chor – und keine Buhs  (Heinz Kersten)

Klinsmann, Schweinegrippe, hessischer Kulturpreis, Schlingensief – allerlei Medienfutter mit strapazierter Genießbarkeitsdauer. Zum guten oder schlechten Teil war das diesjährige Berliner Theatertreffen in seinen Anfängen eine Schlingensiefiade. Dafür sorgte schon der wegen seiner Publizitätsträchtigkeit programmierte Auftakt mit Schlingensiefs im vergangenen September während der Ruhr-Triennale uraufgeführtem »Fluxus-Oratorium« unter dem Titel »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir«, in dem der Autor-Regisseur, wie auch in der Burgtheater-Inszenierung der »Ready Made Oper« »Mea Culpa«, seine Krebserkrankung thematisiert. Mit seinem fast gleichzeitig erschienenen Buch zum gleichen Thema entstand so etwas wie eine konzertierte Aktion, erweitert durch Vorführung zweier Filme des exhibitionistischen Feuilletonlieblings und eine Diskussion mit diversen Prominenten, unter ihnen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der dem neu ernannten Universitätsprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig auch Unterstützung für dessen Plan eines Festspielhauses in Kamerun, Burkina Faso oder Mosambik zusagte, eine Art afrikanisches Bayreuth.

Das Haus der Berliner Festspiele, Hauptspielort des Theatertreffens, hatte Schlingensief für den Auftakt eine Nebenbühne in der Art einer Kirche eingerichtet, was diese Produktion mit 400.000 Euro zur teuersten des ganzen Festivals (Gesamtetat 1,5 Millionen) machte.

Das »Oratorium« beginnt mit einem schwarz-weißen Super-8-Familienfilm, der den Autor als kleines Kind zeigt. Man assoziiert Schlingensief als das sympathische ewige Kind, eloquent und selbstverliebt, das nie erwachsen werden möchte und dank hoher Intelligenz und zeitgeistiger Begünstigung seinen Spieltrieb in bisher 78 Theaterstücken und Aktionen (ungerechnet viele Filme) ausleben konnte und damit durch fast die ganze Welt kam. Videoprojektionen als Erinnerungsfetzen, samt des berühmten Hasen aus seiner Bayreuther »Parsifal«-Inszenierung, wechseln ab mit von Margit Carstensen und Angela Winkler gesprochenen Zitaten aus den im Krankenhaus mit Diktafon aufgezeichneten Texten.

Jugenderfahrungen des Oberhausener Apothekersohns als Meßdiener könnten bei ihm eine ecclesiogene Neurose zurückgelassen haben. Jedenfalls präsentiert sich der Hauptteil seines jüngsten Werkes als katholischer Kitsch. Dabei assistieren dem Regisseur ein schwarzer Gospelchor und ein Neuköllner Kinderchor. Nebst anderen Statisten ziehen sie im Mittelgang als Prozession vor und zurück vom »Altar«, und es fehlen auch nicht die von anderen Schlingensief-Inszenierungen bekannten Behinderten, an der Spitze in goldenem Ornat eine Zwergin als Kardinal. Zum Höhepunkt zelebriert Schlingensief selbst ein Abendmahl, am Rande eine Monstranz mit Röntgenaufnahmen seines Lungenflügels. Hallelujah!

Als positiv könnte man es bewerten, daß das Tabu um das Thema Krebs gebrochen wurde, das durch die Erkrankung Jürgen Goschs, einer der besten Regisseure (mit zwei Inszenierungen zum Theatertreffen eingeladen) zusätzliche Aktualität erlangte. In einer ARD-Talkshow outeten sich gerade auch Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe und seine Frau. Schlingensief wirkt hier also als Wegbereiter ähnlich wie Rosa von Praunheim 1970 mit seinem Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« für die Schwulenbewegung.

Als Kammerspiel war Martin Kusejs Wiener Burg-Inszenierung »Der Weibsteufel« von Karl Schönherr ein Außenseiter. Der Tiroler Autor (1867–1943), der unter den Nazis in »Blut-und-Boden«-Nähe geriet, wird nur noch in Österreich gespielt. 1918 beschuldigte ihn Münchens Erzbischof Michael Faulhaber wegen dieses Stücks der »Verhöhnung des Ehesakraments«. Die Titelfigur steht zwischen zwei Männern: ihrem schmuggelnden, im Bett lahmen Gatten und einem kraftstrotzenden Grenzjäger. Beide möchten sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. In Martin Zehetgrubers Bühnenbild müssen alle Drei bei ihren kargen, von Pausen unterbrochenen Dialogen über dicke schräge Baumstämme balancieren, bis der Jäger den Widersacher aus Eifersucht umbringt und die Protagonistin dieser Emanzipierungsgeschichte triumphierend zurückbleibt. Der großartigen Birgit Minichmayr und ihren Partnern Werner Wölbern und Nicholas Ofczarek verhalf Claus Peymann durch sein Votum zum 3-sat-Preis.

Ganz ohne Worte kommt »Wunschkonzert« von Franz Xaver Kroetz aus. Das vor 38 Jahren entstandene, nur aus Regieanweisungen bestehende Stück ist das auch im Ausland meistgespielte des sozialkritischen Autors, der 2004 aufgehört hat zu schreiben. Es schildert den ritualisierten Feierabend einer Sekretärin, der mit der Einnahme einer Überdosis Antidepressiva endet. In ihrer Kölner Inszenierung macht die englische Regisseurin Katie Mitchell daraus eine vielstimmige Performance, bei der die einsame Selbstmörderin (Julia Wieninger) fast nur auf einer großen Bildwand erscheint, während ihre Verdopplungen auf der Bühne (Alex Eales) zwischen aufgestellten Kameras hantieren. Ein Streichquartett und ein Moderator am Mischpult liefern die Klangkulisse, zu der auch Gedichte der 1974 durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Anne Sexton gehören. Das Filmset erinnert an den medial breitgetretenen Fall einer jungen Engländerin, die sich bis zum Krebstod von Kameras begleiten ließ. Mitchells Aufwand lenkte von der eigentlichen Suizid-Tragödie ab. Ein Kroetz aus der Retorte. Überflüssig.

Überhaupt dienten bei diesem Theatertreffen mehrere literarische Vorlagen nur eitler Selbstdarstellung von Regisseuren. Nicolas Stemann, vor zwei Jahren mit Elfriede Jelineks »Ulrike Marie Stuart« beteiligt, inszenierte am Hamburger Thalia-Theater in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen Schillers »Räuber« als, laut eigener Interpretation, »Wortkonzert«. Karl und Franz Moor sowie die Bande treten mit Rap und Rock als meist chorisches Quartett auf. Die durch Video-Kulissen hinter fast leerer Bühne angedeuteten Schauplätze wechseln oft etwas willkürlich. Der alte Moor, das Dienerpaar und Amalia tragen Kostüme aus der Entstehungszeit des Dramas, die anderen Mitwirkenden auch mal schwarze Strumpfmasken, wobei sie, immer wieder »Freiheit« rufend, RAF und heutige Autonome assoziieren. Trotz originaler klassischer Textpassagen ist die Vorlage kaum wiederzuerkennen. Wenigstens ehrlich firmiert das zunehmend langweilende Happening als »Die Räuber nach Friedrich Schiller«. Sucht man nach einem Sinn des Ganzen, will Stemann wohl gegen einen anarchischen Freiheitsbegriff polemisieren.

Auch verfremdend, doch ästhetisch faszinierend brachte Andreas Kriegenburg Franz Kafkas Roman »Der Prozeß« in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne. Er lieferte damit den Höhepunkt des Theatertreffens. Schon das vom Regisseur selbst entworfene Bühnenbild ist ein Coup: ein riesiges Auge (des Gesetzes?), als Pupille eine schräge Drehscheibe, auf der sich zwischen Büromöbeln und einem zerwühlten Bett akrobatisch je vier männliche und weibliche Akteure bewegen, alle gleich mit angeklebten Menjou-Bärtchen in schwarzen Anzügen. Will sagen: Wir alle sind dieser Josef K., der eines Morgens, »ohne daß er etwas Böses getan hätte«, verhaftet wird. Ein Gleichnis auch für einen Überwachungsstaat. Hin und wieder löst sich einer aus dem choreographierten und den Text oft chorisch vortragenden Ensemble und schlüpft in eine Nebenrolle, wobei Annette Paulmann als Maler Titorelli besonders brilliert.

Romane oder Filme für die Bühne zu adaptieren, ist inzwischen zu einer Theatermode geworden. So frei, wie Stemann mit Schillers »Räubern« umgeht, bedient sich auch Volker Lösch bei dem bekanntesten Stück von Peter Weiss »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«. In der als politischste des Theatertreffens gehandelten Inszenierung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg (s. Ossietzky 22/08) sind aus den Irren der französischen Anstalt zwei Dutzend Hartz-IV-Empfänger geworden, die am Anfang und Ende des Stückes (das nun »Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?« heißt) bewundernswerten Chor-Geist skandieren und sonst auf der Bühne von einem Anstaltsleiter in modernem Motivationstrainer-Look herumkommandiert werden. Bekannt wurde Lösch mit der ersten seiner plakativen Chorarbeiten 2005 in Dresden, wo in seiner Bearbeitung von Hauptmanns »Webern« ein Arbeitslosenchor auftrat und schon durch den Aufruf zur Ermordung Sabine Christiansens für einen Skandal sorgte.

Skandalauslösend in Hamburg war die als Epilog chorisch verlesene Namensliste der reichsten Hamburger samt ihrer Millionen und Adressen. Bevor die Vertreter der Armut (ich konnte mich nicht des Gedankens erwehren, daß sie genau wie Schlingensiefs Behinderte für Theatereffekte benutzt werden) damit an die Rampe treten, müssen sie sich einen Eimer roter Farbe gleich Blut über die Köpfe gießen – eine der üblichen déja-vu-Regiemätzchen, zu denen auch die Verkörperung de Sades durch eine füllige Schauspielerin gehört, die später noch dazu in einem Weihnachtsmann-Kostüm erscheint. Marats Revolutionsideale werden persifliert durch einen vom Schnürboden herabgeseilten versilberten Lenin, eine tattrige Castro-Imitation und eine Parodie des Linkspartei-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der an Stelle Marats zuletzt in der Badewanne von Charlotte Corday erschossen wird. Die Mörderin in hellblauem Kleidchen kommt zur vorangehenden Kopulation mit einem Blumenstrauß – ganz wie 1990 die originale Lafontaine-Attentäterin. Eine besonders geschmackvolle Pointe, die ein bourgeoises Publikum, das Hartz IV nur aus der Zeitung kennt, nicht an begeistertem Schlußapplaus hindert.

Eine Beobachtung an jedem Theaterabend: Mißfallenskundgebungen im Widerstreit mit Bravos, die auch zur Lebendigkeit des Theaters gehören, sind seit langem ausgestorben. Sie müßten in diesem Jahr auch der Auswahljury von sieben Kritikern gelten, die in dreijährigem Wechsel von der Leiterin des Theatertreffens, Iris Laufenberg, und dem Intendanten der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius, berufen wird. Das Auswahlkriterium der zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen ist seit jeher umstritten. Trotz meiner Einwände halte ich die Entscheidung für Schlingensief und Lösch für berechtigt. Was aber sollte die One-Man-Show eines, wenn auch amüsanten, Leseabends von Joachim Meyerhoff vom Wiener Burgtheater »Alle Toten fliegen hoch 1–3«? Geradezu absurd erschien mir die Nominierung eines Projekts von Christoph Marthaler zum 100. Jahrestag der Eröffnung des Engadiner Künstlerhotels Waldhaus, von dem man wußte, daß es nicht nach Berlin übertragbar war.

Von 37 diskutierten Inszenierungen blieben einige Arbeiten fast durchweg bekannter, schon bei früheren Theatertreffen berücksichtigter Regisseure übrig. Fehlanzeige bei der sogenannten Provinz und (mit Ausnahme des Berliner Deutschen Theaters) beim gesamten Osten. Die Vielfalt der deutschen Theaterlandschaft wird so kaum sichtbar, und es stellt sich die Frage nach den Qualitätsmaßstäben. Im vielstrapazierten Jubiläumsjahr fühlte ich mich an den von Heiner Müller einmal geäußerten Eindruck erinnert, daß »die Vereinigung zu einer Niveausenkung im gesamtkulturellen Bereich geführt« hat.