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Selbstbetrug ist tödlich  (Ralph Hartmann)

Montenegro oder, wie die Bewohner es nennen, Crna Gora (Schwarzer Berg) ist ein zauberhaft schönes Land. Im Westen grenzt es an Bosnien-Herzegowina und Kroatien, im Osten an Serbien und im Südosten an Albanien. An seiner 260 Kilometer langen Adria-Küste stürzen die Berge steil ins Meer. Zahlreiche Buchten, darunter die Bucht von Kotor, ermöglichen einen gefahrlosen Zugang. Das Land ist relativ klein, seine Gesamtfläche beträgt gerade einmal 13.812 Quadratkilometer. Zum Vergleich: Thüringen erstreckt sich über 16.172 Quadratkilometer.

 

Im Laufe der Jahrhunderte war Montenegro immer wieder von mächtigen Nachbarstaaten bedrängt und damit auch vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt – von Illyrien, Griechenland, Rom, Byzanz und dem Osmanischen Reich. Doch immer wieder verteidigte es unbeugsam seine Unabhängigkeit. Als im Ersten Weltkrieg die Truppen Österreich-Ungarns Montenegro besetzten, zeigten sie sich außerstande, den Widerstand zu brechen. Das Kaiserreich ließ ein Relief-Modell des Landes im Maßstab 1:10.000 anfertigen, um die Aufständischen zu lokalisieren und zu besiegen. Der Sieg blieb aus. Das Modell wanderte ins Museum. Im Zweiten Weltkrieg geriet das Land nach dem Sieg der Hitlerwehrmacht über Jugoslawien erst unter italienische und später unter deutsche Besatzung. Partisanen, vor allem die von Josip Broz Tito geführten, vertrieben die Okkupanten. Montenegriner sagen über ihre Heimat: »Montenegro hat mehr Kriegsnarben als Kunstwerke, mehr Schlachtfelder als Schulen.«

 

Montenegro ist ein multiethnischer Staat. Montenegriner, Serben, Bosnier, Albaner und andere leben weitgehend friedlich zusammen. Ihre Gesamtzahl beträgt rund 623.000 (zum Vergleich noch mal Thüringen: 2,17 Millionen Einwohner). Auch in dieser Hinsicht ist Montenegro ein kleines Land.

 

Montenegro verfügt über eigene Streitkräfte. Zu ihnen gehören ein Generalstabsinfanteriebataillon, Marine- und Luftwaffeneinheiten, ein Logistikbataillon, eine Garde- und eine Aufklärungskompanie, eine Militärpolizei- und eine Kommunikationskompanie. Den Streitkräften gehören insgesamt rund 3500 Personen an. Sie verfügen über 61 Panzer vom Typ T-55, die aus Kostengründen stillgelegt sind, sowie über 300 Artilleriegeschütze.

 

Summa summarum, die Streitkräfte sind klein wie eben auch das Staatsterritorium und die Bevölkerungszahl. Doch das Land soll Mitglied der North Atlantic Treaty Organization werden, obwohl es von keinem anderen Staat bedroht ist, der Machtzuwachs für die NATO angesichts seiner Liliput-Armee gering ist und die Mehrheit seiner Bewohner einen Beitritt zur Allianz ablehnt. Aus NATO-Sicht liegt die Bedeutung des Beitritts darin, auch die östliche Küstenlinie der Adria vollständig in Besitz zu nehmen und Russland damit zu signalisieren, dass die Osterweiterung des Kriegspaktes auch auf dem Balkan fortgesetzt wird. So überrascht es nicht, dass Moskau energisch gegen dieses antirussische Vorhaben protestiert hat.

 

Aber der Reihe nach. Im Mai 2016 beschloss die NATO, russische Warnungen missachtend, die Aufnahme Montenegros in den Pakt. Die Außenminister der 28 Mitgliedsstaaten unterzeichneten auf einem Treffen in Brüssel in Anwesenheit des damaligen montenegrinischen Ministerpräsidenten Milo Đukanović ein sogenanntes Beitrittsprotokoll. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einem »historischen Schritt«, und der montenegrinische Premier war ob der Einladung der NATO an sein Land außer sich vor Freude. Dies, so meinte er, sei der wichtigste Tag für den Balkanstaat, seit er 2006 unabhängig von Serbien geworden sei. »Montenegro betritt den exklusiven Kreis von Staaten, die gleichbedeutend sind mit den höchsten Werten der modernen Zivilisation«, jauchzte er (zitiert nach welt.de, 2.12.2015). Ja, die NATO und die höchsten Werte der Zivilisation! Gerade in Jugoslawien, zu dem Montenegro bis 2003 gehörte, hat der Kriegspakt sie unter Beweis gestellt, als er das Land überfiel und 79 Tage lang bombardierte.

 

Die Freude von Đukanović, dessen Dauerregentschaft immer wieder von Gerüchten und Recherchen wegen seiner Verwicklung in Zigarettenschmuggel überschattet war, wird bei weitem nicht von allen seinen Landsleuten geteilt. Viele wünschen sich enge, freundschaftliche Beziehungen zu Russland. Das ist keineswegs die Folge von Hackerangriffen oder angeblichen »Fake-News« des Kremls. Die russlandfreundliche Haltung ist in Jahrhunderten gewachsen. Prägend war die russische Unterstützung gegen das Osmanische Reich und für die Unabhängigkeit eines montenegrinischen Staates. Unvergessen ist auch die solidarische Haltung Moskaus gegen den verbrecherischen NATO-Überfall auf Jugoslawien.

 

In der NATO und ausgerechnet in den USA geriet der Ratifizierungsprozess des Beitrittsprotokolls zeitweilig ins Stocken. Als der Vorsitzende des Senatsausschusses für die Streitkräfte, der bewährte Friedenskämpfer John McCain, seine Senatskollegen aufrief, der Resolution für die Aufnahme Montenegros zuzustimmen, legte der Senator aus Kentucky Rand Paul Widerspruch ein. Der aufgebrachte McCain beschuldigte ihn umgehend, für den Kreml zu arbeiten. Senator Paul ließ das nicht auf sich sitzen. In einem Interview in der Sendung »Morning Joe« von MSNBC begründete er am nächsten Tag seinen Widerspruch, der keineswegs aus Liebe zu Putin eingelegt worden war. Er vertrat die Auffassung, dass sich die USA aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung keine weiteren militärischen Interventionen leisten könnten: »Wir haben derzeit Kampftruppen in etwa sechs Nationen und wahrscheinlich in ein paar Dutzend weiteren Ländern Truppen stationiert. Unsere Staatsschulden betragen 20.000 Milliarden Dollar. Wenn es nach McCain ginge, dann hätten wir Truppen in fast jedem Land rund um den Globus.«

 

Doch wenig später mischte sich Trumps Außenminister Rex Tillerson in den Streit ein. Er schrieb führenden Senatoren einen Brief und rief sie auf, die NATO-Mitgliedschaft Montenegros zu ratifizieren, da diese »außerordentlich im Interesse der USA« sei. Inzwischen hat der US-Senat den Beitritt mit großer Mehrheit beschlossen.

 

Nach grünem Licht aus den USA hat auch das Parlament von Montenegro den NATO-Beitritt beschlossen. 46 von 81 Abgeordneten stimmten in der ehemaligen Hauptstadt Cetinje für die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis. Die Opposition, die vor dem Parlament gegen den Beitritt gemeinsam mit aufgebrachten Landsleuten demonstrierte, blieb der Abstimmung fern. Nach ihrer Auffassung, die von der Mehrheit der Montenegriner geteilt wird, bedeutet der NATO-Beitritt, dass ihr Land Teil einer aggressiven Militärallianz wird, zukünftig Truppen in Kriegszonen schicken, seine Häfen für den Pakt sowie das Land für die Stationierung fremder Truppen öffnen muss und wider Willen selbst in einen Krieg gegen befreundete Staaten wie Serbien und Russland hineingezogen werden kann. Befürchtet wird nicht zuletzt, dass dem lebenswichtigen Tourismus aus Russland schwerer Schaden zugefügt wird.

 

Die Opposition will nun ein Referendum über den NATO-Beitritt abhalten, sollte sie irgendwann an die Macht kommen.

 

Der Nachfolger von Đukanović im Amt des Ministerpräsidenten, Duško Marković, sieht das anders: Der NATO-Beitritt werde Montenegros Sicherheit, wirtschaftlichen Fortschritt und die Stabilität in der Region sicherstellen. Entzückt rief er aus: »Dieser Tag wird als einer der hellsten in unsere Geschichte eingehen.« (www.taz.de)

 

Wenn er sich da mal nicht irrt! Vielleicht hätte er sich vor solchem Jubel ins Lovćen-Gebirge auf den 1657 Meter hohen heiligen Berg Jezerski Vrh begeben sollen, wo sich das Mausoleum des weltbekannten Dichters und montenegrinischen Fürstbischofs Petar II. Petrović-Njegoš befindet. Hier hätte er sich an dessen Worte erinnern können: »Wer auf einem Berg, und sei es auch ein kleiner, steht, sieht mehr als jener an dessen Fuße.« Und mit Blick auf den Beitritt zur NATO-Kriegsallianz hätte er möglicherweise die Warnung des montenegrinischen Dichterfürsten verstanden: »Samoobmana je ubitačna i za ljude i za narode.« Auf gut Deutsch: »Selbstbetrug ist tödlich, sowohl für Menschen als auch für Völker.«