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Die neoliberale Reconquista (2)  (Wolf Gauer)

Die Entwicklung Chiles nach der Militärdiktatur (Ossietzky, Heft 9/2017) zeigt exemplarisch die neue unblutige Strategie der neoliberalen Restauration in den sogenannten linken Staaten Südamerikas auf. Sie entspricht weitgehend den gravierenden Veränderungen in Argentinien seit dem Amtsantritt des Präsidenten Mauricio Macri im Dezember 2015.

 

Macri besuchte dieser Tage die USA. Der Baulöwe traf sich mit seinem früheren Geschäftsfreund Donald Trump und war Ehrengast bei Ölkonzernen in Texas. Diese nämlich interessiert argentinisches Öl und Erdgas. Schon im November 2015 hatte das Wirtschaftsblatt Forbes Magazine die US-amerikanischen Wünsche formuliert: Zugang zu den Öl- und Gasvorkommen in Patagonien. Das dortige Neuquén-Becken gilt als eines der reichsten Erdölreservate Südamerikas. Das BASF-Unternehmen Wintershall ist bereits seit 1994 in Neuquén tätig.

 

Mit Gas, allerdings Tränengas, hat Macri den landesweiten Streik vom 6. April bekämpft. Die Argentinier sorgen sich schließlich weniger um Macris Ölhändel als um ihre zunehmende Verarmung und Arbeitslosigkeit und um den Verfall ihrer Währung. Nach Informationen des Präsidialamts (September 2016) lebt mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und 6,3 Prozent aller Argentinier gelten als verelendet. Die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung muss mit etwa 16 Euro pro Kopf und Tag auskommen. Im ersten Regierungsjahr Macris nahm die Inflation  um 45 Prozent zu. Ausländische Investitionen sind rund sieben Mal geringer als in Brasilien. Noch aber erinnert sich Argentinien an seinen hohen Entwicklungsstand nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich mit Ländern wie Australien und Kanada messen konnte. Man weiß im Gegensatz zu Chile, Peru oder Brasilien, dass es allen nicht nur besser, sondern viel besser gehen könnte.

 

 

Der »kirchnerismo« und Macri

Mit dem Versprechen »pobreza cero« (Null Armut) war Macri bei der Präsidentschaftswahl 2015 gegen den von Cristina Fernández de Kirchner vorgeschlagenen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, angetreten. Und damit gegen zwölf Jahre »kirchnerismo« – eine linke Variante des Peronismus, benannt nach dem Präsidentenehepaar Néstor und Cristina Kirchner und dessen Amtszeiten von 2003 bis 2007 (Néstor) und von 2007 bis 2015 (Cristina). Selbst die kommunistische Partei Argentiniens (PCA) unterstützte beide Präsidenten. Mit dem Namen Kirchner verbinden sich die Wiederherstellung der Menschenrechte, die Aufarbeitung der Folgen der Militärdiktatur (1976–1983) und des ruinösen ultra-liberalen Regimes des Präsidenten Carlos Menem (1989–1999). Néstor Kirchners legendärer Schlagabtausch mit George W. Bush (2005), der Argentiniens Beitritt in die Freihandelszone ALCA erzwingen wollte, ist ein Markstein im Bemühen um Eigenständigkeit der südamerikanischen Nationen. Bush – der Bush-Clan verfügt über riesige Ländereien über dem südamerikanischen Guarani-Grundwasserbecken – wollte aus allen 34 Staaten zwischen Alaska und Feuerland eine einzige Spielwiese für die Global Player der USA machen. Mit den schon am Beispiel Chile geschilderten Folgen.

 

Beide Kirchners traten dagegen für eine unabhängige nationale Erneuerung Argentiniens ein, für den Ausbau der argentinischen Industrie, für gewerkschaftliche Repräsentanz der Arbeitnehmer und staatlich abgesicherte soziale Fürsorge. Die umfassende Privatisierung vonseiten der Regierung Menem wurde aufgehoben, Trinkwasser, Ölreserven, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Kommunikation wieder unter öffentliche Kontrolle gebracht, darunter auch die  nationale Fluglinie Aerolíneas Argentinas und die Flugzeugwerke von Córdoba. Während der Kirchner-Regierungen erreichte Argentiniens Handelsbilanz wieder einen nahezu ausgewogenen Stand.

 

Die Vorwürfe der Korruption gegenüber den Regierungen Kirchner treffen in Einzelfällen zu, umso mehr, als Korruption ein Erbübel jeder (und nicht nur) lateinamerikanischen Administration ist und regelmäßig auch als Instrument der US-amerikanischen und europäischen Beeinflussung eingesetzt wird.

 

 

An der langen Leine

Mauricio Macri wirft nun das Ruder wieder herum. Rund 500.000 Arbeitsplätze kostete bislang die neuerliche Auslieferung des argentinischen Marktes an die konkurrenzlose Produktschwemme aus den USA, China und der EU. Macris Pilgerfahrt in die USA machte das Maß voll: Statt Argentinien US-amerikanische Investitionen zu beschaffen, verbrachte sie argentinisches Investitionskapital in die USA: Der argentinische Milliardär Paolo Rocca, Hauptaktionär der Techint-Group, des weltgrößten Herstellers nahtloser Stahlrohre für die Ölindustrie, wird ein Röhrenwerk in den USA bauen und mit in Argentinien erwirtschaftetem Geld 1500 neue US-amerikanische Arbeitsplätze schaffen. »Der Gipfel vaterlandsloser Gesinnung« titelte das Internetportal Resumen Latinoamericano am 27. April.

 

Argentinien ist seit 1998 ein »Major non-NATO-ally« (wichtiger Nicht-NATO-Verbündeter) der USA. Macri hat unmittelbar nach seiner Wahl – und als erster Präsident Argentiniens überhaupt – die US-Botschaft in Buenos Aires betreten, Vollzugsmeldung gemacht und als Morgengabe US-amerikanische Militärbasen auf Feuerland und in der Provinz Misiones genehmigt.

 

Es ist anzumerken, dass Macri seinen Wahlvorteil von 2,8 Prozent dem betrügerischen Kampfjournalismus des rechten und größten argentinischen Medienmonopolisten Grupo Clarín schuldet, außerdem der Tatsache, dass Cristina Kirchner verfassungsmäßig keine unmittelbar anschließende Kandidatur erlaubt war. Trotz ähnlichen Dauerfeuers der Konzernmedien in Brasilien und Ecuador konnten Dilma Rousseff (2014) und Lenín Moreno (2017) einen etwa gleichgroßen Vorsprung erzielen. Während die rechte Opposition in Brasilien und in Ecuador ihren Misserfolg nicht anerkannte, akzeptierten die »kirchneristas« ihre Niederlage klaglos.

 

Im Oktober muss die Hälfte des argentinischen Parlaments neu gewählt werden. Möglicherweise werden sich Rückschlüsse auf die Präsidentschaftswahlen 2019 ergeben. Dann nämlich könnte Cristina Kirchner erneut kandidieren. Sie zeigt sich neuerdings wieder häufiger in der Öffentlichkeit.

 

 

Der nicht-erklärte Krieg gegen Venezuela

Keine Regierung Südamerikas, die aus der imperialistischen Botmäßigkeit ausgeschert ist, war und ist derart extremen innen- und außenpolitischen Angriffen ausgesetzt wie die Venezuelas. Und kein anderes Land – allenfalls Evo Morales’ Bolivien und Chile in den kurzen Jahren der Regierung Allende (1970–1973) – hat so viel für eine gerechtere soziale Umstrukturierung getan wie Venezuela in den 14 Jahren der Präsidentschaft von Hugo Chávez Frias (1999–2013). Chávez verknüpfte das revolutionäre antikolonialistische Denken des Aufklärers Simón Bolívar (1783–1830) mit den Zielen des neuzeitlichen Sozialismus und der Lebensweise der originären Südamerikaner vor der europäischen Landnahme. Der Chavismus verbindet Bolívars visionäres »Vaterland für alle« mit den Zielen des Sozialismus, den Sozialismus mit dem »buen vivir« (dem guten Zusammenleben) der indigenen Kollektive und das »buen vivir« mit der Soziallehre der modernen Befreiungstheologie.

 

Die chavistischen Reformen eröffneten Zugang für alle zu Bildung und Gesundheitsfürsorge, zu Wohneigentum, zu Selbstverwaltung und direkter Demokratie auf allen Ebenen, die unter anderem auch eine Abwahl jedweden Funktionsträgers ermöglicht. Chávez initiierte eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kuba, Russland, China, Bolivien, mit Lulas Brasilien und dem Argentinien der beiden Kirchners – zum Missfallen der bürgerlichen Eliten und ihrer nordamerikanischen Vordenker.

 

Wie nicht anders zu erwarten regnete es Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, Medienboykott, Sabotage und Einmischungen jeder Art. Am heftigsten wirkte sich die Manipulation des Ölpreises aus, die Venezuelas Einnahmen auf ein Drittel ihrer früheren Höhe reduzierte. Für die inzwischen umgekrempelten südamerikanischen Schlüsselländer Brasilien und Argentinien sind Venezuelas politische Isolierung und sein Ausschluss aus den politischen und wirtschaftlichen Organisationen Lateinamerikas Chefsache.

 

Dem biederen Präsidenten Nicolás Maduro wird es immer schwerer, sich gegen die inneren und äußeren Machinationen zu wehren, er muss ohne das Charisma und die sprichwörtliche Genialität seines Vorgängers Chávez auskommen. Die von den USA und auch von deutschen Parteistiftungen unterstützte Opposition MUD (Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen Einheit) verfügt über die parlamentarische Mehrheit und beherbergt außerdem die Urheber undemokratischer Schurkenstücke im Interesse der nördlichen Hemisphäre. An erster Stelle zu nennen ist hier der frustrierte zweimalige Wahlverlierer und Nutznießer von Zuwendungen des brasilianischen Bauimperiums Odebrecht, Henrique Capriles Radonski, Gouverneur des Bundeslandes Miranda, der zuletzt 2013 gegen Nicolás Maduro unterlag. Eine Chronik seiner politischen Vergehen habe ich damals unter www.hintergrund.de/politik/politik-eu/wer-ist-capriles-radonski/ zusammengestellt.

 

Den Schlussstein zur Isolation des sozialistischen Venezuela setzte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit ihrer Entscheidung, ohne Zustimmung und Anhörung ihres Mitglieds Venezuela über dessen Probleme in einer außerordentlichen Sitzung zu beraten. Venezuela ist konsequenterweise am 26. April aus dem von Washington gesteuerten Kartell ausgetreten.

 

Angesichts der sich weiterhin verhärtenden innenpolitischen Konfrontation, der medialen Nachrichtenverfälschung und der von der imperialistischen Opposition provozierten gewaltsamen Ausschreitungen hat Präsident Maduro am 1. Mai den Beschluss zur Einberufung einer neuen verfassungsgebenden Versammlung veröffentlicht. Er verzichtet damit auf den Einsatz des loyalen Militärs und macht von einem dem Präsidenten zustehenden konstitutionellen Recht Gebrauch. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in den deutschen und US-amerikanischen Konzernmedien konsequent verschwiegen und damit der Eindruck eines Staatsstreichs vermittelt. Die etwa 500 Delegierten sollen den chavistischen Prinzipen entsprechend nicht von den politischen Parteien, sondern von allen Bevölkerungsbereichen gestellt werden, beispielsweise von den kommunalen Räten, den Indigenen, den Arbeiterorganisationen und auch den Rentnern.

 

Maduros Entschluss hat Ratlosigkeit und Hasstiraden der politischen Gegner hervorgerufen, allen voran der OAS. Er entlarvt die fragwürdige Repräsentativität der westlichen Formaldemokratie und die Farce ihrer abgehobenen Volksvertretungen.