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Titel1214

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Daß Horváth, von sich selbst durchaus überzeugt, aber einmal ein Klassiker werden könnte, hat er nicht geahnt. Inzwischen gehört er zu den meistgespielten Autoren des 20. Jahrhunderts – nun auch im DT, wo die »Geschichten aus dem Wiener Wald« 1931 uraufgeführt worden waren, inszeniert von Heinz Hilpert mit Carola Neher, Peter Lorre und Hans Moser, der durchaus nicht nur der Blödian-Komiker war wie später im Film. Jetzt also wieder am gleichen Ort, inszeniert durch Michael Thalheimer. Man war gespannt, schließlich auch erstarrt wie die Figuren, die eine Art Kartongesichter tragen, also Masken der Erstarrung. Ich denke, der Regisseur hat den beiden Hauptfiguren Oskar und Marianna, gespielt von Peter Moltzen und Katrin Wichmann, zu wenig Chancen der Entwicklung in ihren Widersprüchen gelassen, sie zu früh festgelegt. Daher der Eindruck der Erstarrtheit. Daß dahinter im Grunde erstarrte Verhältnisse alles bestimmen, Verhältnisse, die in ihrer Bewegung nur den Widerspruch von Krise zu Krise kennen, kam in dieser bei Horváth beschriebenen Realität der Weltwirtschaftskrise, die bereits den Faschismus ahnen läßt, nicht so recht heraus. Das konnte man schon besser sehen, etwa bei Horst Ruprecht oder auch bei Thalheimer selbst, etwa in den »Ratten« von Hauptmann. Auch der Film von Maximilian Schell mit der fast legendären Adrienne Gessner ließ da tiefere Einblicke zu. Und da war es der richtige Walzer, nämlich »Geschichten aus dem Wienerwald«, woher Horváth seinen Titel hatte. Thalheimer gab auch Wiener Walzer-Musik dazu, den von der »Schönen blauen Donau«. Auch nicht falsch, aber so ganz zum Ursprung des Wienerischen im allgemeinen und der wienerischen Krise im besonderen führte er nicht. Der Wiener hat eben so seine eigene Krise, die erst durch den »Führer« aus Braunau zur deutschen und dann zur Weltkrise gemacht worden ist. Kurz gesagt: Dieser Aufführung eines visionären Stückes eines visionären Dramatikers fehlt die Vision ... des Furchtbaren!

Zum Abschluß, noch etwas Schönes, absolut Gelungenes, das Memorial »Tilla« von Christoph Hein, ein Abend, an welchem eine große Schauspielerin, nämlich Inge Keller, eine andere große, die auf diesen Brettern wirklich mit die Welt erstehen ließ, darstellt und feiert. Tilla Durieux. Ich kann nicht umhin, meine persönliche Beziehung zu dieser großen und tapferen Frau hier einzubringen. Sie war jüdisch wie ich, lebte in Wien, Breslau, Berlin, war im Exil in Jugoslawien und dort sogar im aktiven Widerstand. Als sie in den späten Sechzigern/frühen Siebzigern in Berlin war, war ich ihr Lektor und Begleiter in Berlin, gab einen Memoirenband von ihr heraus (»Eine Tür steht offen«); zuerst ging es förmlich zu – Große alte Dame – junger Mann, dann kollegial – Autorin – Lektor; als sie von meinem Exil und den Kämpfen meiner Eltern in der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee mit mir als Kindersoldat erfuhr, schloß sie mich ins Herz. Von nun an war ich für eine Woche ihr ständiger Begleiter quer durch die Stadt und bei allen Veranstaltungen; der Höhepunkt: Ihr Auftritt im damaligen Künstlerclub »Die Möwe« mit Fred Dengers Monodrama »Langusten« – zwei und eine halbe Stunde in einem langen Monolog einer armen Arbeiterfrau, die Langusten geschenkt bekommen hatte, ein Festmahl mit der Biographie einer Geschundenen durch die Kriege der Klassen und Völker im 20. Jahrhundert. Danach nahm die alte Dame an einem Festmahl zu ihrem 89. Geburtstag teil, ohne ein Zeichen der Ermüdung. Auch den 90. feierten wir zusammen am selben Ort; da gab es vorher noch einen Festakt im DT, an dem sie von 1903 bis 1911 gespielt hatte, später in anderen Berliner Theatern, 1927 an der Piscatorbühne. Auch nach der Rückkehr aus dem Exil 1962 hatte sie noch einmal unter seiner Regie in Gerhart Hauptmanns »Die Atriden« die Peitho gespielt. Sie war künstlerisch immer dort, wo der Fortschritt spielte. Neben Avantgardisten erfüllte sie auch große Klassiker.

Nun also ein Stück über sie, Inge Keller als Tilla. Es konnte besser nicht sein. Eine, die selbst Tradition des DT und eines progressiven deutschen Theaters ist, stellt sich vor oder in eine andere, die das eine Generation vor ihr war. Ein etwas Späterer (eben Hein) schrieb das Stück, und ein Mittfünfziger spielte den Betreuer, Verehrer und Ehemann der Durieux (Bernd Stempel). Mehrere Generationen bilden einen Strang deutschen Theaters und dies an einem Gegenstand, genauer: einer Person. Was könnte besser sein!