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Die neoliberale Reconquista (3)  (Wolf Gauer)

Im August 2016 war der Regime Change in Brasilien endlich geschafft. Mit vereinten Kräften war die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Vana Rousseff zur Strecke gebracht worden. Allen voran hatte der unversöhnliche sozialdemokratische Wahlverlierer von 2014, Aécio Neves, intrigiert. Er steht inzwischen vor seiner Verhaftung wegen aktiver und passiver Bestechung in Millionenhöhe; sein Reisepass wurde ihm schon entzogen. Neves’ Spießgesellen in den großen Zentrums-Parteien PMDB und PSDB, das Medienmonopol Globo, das Putschlabor der US-Botschafterin Liliana Ayalde (dieselbe, die 2012 den paraguayischen »Präsidenten der Armen«, Fernando Lugo, entmachtete) und ihr langjähriger Informant Michel Elias Temer, mittlerweile der 37. Präsident Brasiliens, hatten ein Amtsenthebungsverfahren fabriziert – mithilfe faktoider Unterstellungen, Stimmenkauf in Rousseffs Neun-Parteien-Koalition und einer beispiellosen Verleumdungskampagne gegen die Präsidentin und ihre Arbeiter-Partei (PT).

 

 

Das Faktotum Temer

Temer ist der erste Regierungschef Brasiliens, gegen den wegen Korruption, krimineller Vereinigung und Justizbehinderung ermittelt wird, gegen den 13 (fundierte) Amtsenthebungsanträge vorliegen und eine Anklage wegen Verletzung der Menschenrechte bei der UNO. 95 Prozent der Bevölkerung lehnen ihn ab; sein Rücktritt wird täglich erwartet. Noch klebt er am Präsidentensessel, denn der bedeutet Immunität. Selbst das Militär hat Temer am 24. Mai nur unter Protest die wütenden Demonstranten vom Leib gehalten. Generalstabschef Villas Bôas: »Das ist Sache der Polizei« (Brasil247, alle Übs. W. G. 24.5.17).

 

Temers neoliberale Agenda privatisiert systematisch Volkseigentum und verschleudert es an ausländische Interessenten: Agrarland, das brasilianische Tiefsee-Öl, Wasser- und Gasreserven, die öffentlichen Flughäfen, den Raketenstartplatz von Alcântara. Temer dient Washington Standorte für Militärbasen (auch gemeinsame Manöver) an, reduziert das für Lateinamerika vorbildliche brasilianische Arbeitsrecht, den Zugang zu Bildung und Altersvorsorge. Der zäh erkämpfte Klima- und Umweltschutz, das Eigenheimprogramm für Niedrigeinkommen und die öffentliche Medikamentenversorgung der »Farmácia Popular« (Volksapotheke) werden abgebaut. Auch die kargen Bodenrechte der rund 500.000 indigenen Brasilianer, die noch im herkömmlichen Stammesverband leben.

 

Der britische Historiker Craig Murray interpretiert den autokratischen Struktur- und Sozialkahlschlag als »ultrakorrupten Coup der CIA« (Jornalivre, 28.4.17). Ein Coup gegen die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas, die Lula da Silva und Dilma Rousseff von der Nord-Süd-Hörigkeit gelöst und in die BRICS-Gruppe eingebracht hatten. Im März 2017 registrierte Brasilien 14,2 Millionen Arbeitslose gegenüber elf Millionen im März 2016.

 

 

Rette sich, wer kann

Mir graut vor dem täglichen Tsunami neuer Enthüllungen und Korruptionsanklagen, die sich untertags bestätigen, nicht bestätigen oder einfach widersprechen. In rascher Folge werden Minister und hochrangige Funktionäre gefeuert, verhaftet oder wieder entlastet. Je nachdem, von wem sie gerade im Restaurant, im Keller des Präsidentenpalastes oder beim nächtlichen Hantieren mit Geldkoffern gefilmt oder mitgeschnitten worden sind.

 

Freund und Feind schneiden inzwischen jeden Mucks ihrer Gesprächspartner mit – für alle Fälle. Mindestens 108 Personen stehen auf der Anklageliste des couragierten Richters Edson Fachin vom Obersten Bundesgericht. Er ist Berichterstatter der »Aktion Waschstraße«, die den Politsumpf reinigen soll und bislang Finanzmachenschaften im Umfang von etwa drei Billionen Euro aufgedeckt hat. Sein noch furchtloserer Vorgänger in derselben Funktion, Teori Zavascki, starb im Januar bei einem mysteriösen Absturz eines Privatflugzeugs. Zavasckis Sohn Francisco meinte im Hinblick auf die Skrupellosigkeit der herrschenden Nomenklatura: »Ich schaffe es nicht zu glauben, dass sie meinen Vater nicht haben umbringen lassen« (Brasil247, 18.5.17).

 

Unter den Angeklagten des Richters Fachin befinden sich mindestens neun Minister Temers, drei Gouverneure, 29 Senatoren, 42 Abgeordnete, ein Richter des Bundesfinanzgerichts und natürlich der Regierungschef in personam. Inzwischen haben nämlich auch die Bankhalter der Finanzkabalen das versteckte Mi-krofon dabei: Joesley Batista, Miteigentümer des weltweit tätigen Fleischkonzerns JBS und Mitfinanzier der Putschisten, nahm ein nächtliches Gespräch mit dem Regierungschef auf, in dem Schweigegeldzahlungen an den gefürchteten und mittlerweile in Untersuchungshaft sitzenden ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha erwogen wurden. Cunha hatte die Amtsenthebung von Dilma Rousseff mit seltener Gerissenheit über die parlamentarischen Hürden gebracht (vgl. »Die nationale Schande«, Ossietzky 18/2016). Cunha weiß aber auch, was es mit den 65 Millionen BRL (circa 20 Millionen Euro) auf sich hat, die neben anderen »Spenden« dem Präsidenten Temer zugeflossen sein sollen.

 

 

Die Kronzeugenmasche

Besagter Joesley Batista machte sich per Selbstanzeige zum Angeklagten und Kronzeugen zugleich. Er führte seelenruhig seinen Mitschnitt vor, kam mit einer Geldstrafe davon und verfügte sich wieder problemlos in sein Domizil in Manhattans Fifth Avenue. Der honorige Senator Roberto Requião erklärt so viel Entgegenkommen damit, dass das U. S. Department of Justice (Justizministerium) mit Batistas Hilfe bewusst das brasilianische Chaos habe schüren wollen. Batistas polizeiliche Verhöre sind auf YouTube einsehbar. Er lässt durchblicken, dass im neoliberalen System happige Parteispenden und Schmiergelder zum Tagesgeschäft der großen Unternehmen gehören. Die brasilianischen Großfirmen Petrobras (Energie) und Odebrecht (Baubranche) haben dies exzessiv unter Beweis gestellt.

 

Odebrecht beispielsweise hat gleichzeitig den Wahlkampf der peruanischen Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori und ihres Kontrahenten Pedro Pablo Kuczynski mitfinanziert. Geraten die verantwortlichen Manager in Untersuchungshaft, geben sie angesichts drohender Gefängnisstrafen Informationen preis, die mittlerweile Hunderte brasilianischer Politiker, Beamter und deren Kollaborateure vor den Kadi brachten. Zwecks Minderung der eigenen Strafe und nicht zuletzt unter Druck der krassen Haftbedingungen.

 

Dem »Waschstraße«-Richter Sergio Moro wird vorgeworfen, mittels drakonischer Urteile und Haftverfügungen Kronzeugen-Aussagen gegen den Ex-Präsidenten Lula da Silva erzwingen zu wollen, um ihn damit von den Präsidentschaftswahlen 2018 ausschließen zu können. Lula beendete sein zweites Präsidentschaftsmandat (2007–2011) mit einer Zustimmungsrate von 83 Prozent und könnte 2018 auf Anhieb im ersten Wahlgang wieder gewählt werden.

 

 

Politische Kultur und Korruption

Die wirkliche Ursache der Amtsenthebung von Dilma Rousseff war ihre Weigerung, Korruptionsexzesse zu tolerieren, die teilweise Folge der brasilianischen Wirtschaftsexpansion waren. Korruption wird traditionell als Teil der politischen Kultur (nicht nur) Lateinamerikas empfunden. Als »Umverteilungsmechanismus« vor der historischen Tatsache, dass Lateinamerikaner seit den Anfängen der Kolonialisierung nur ganz selten Vertrauen zu  ihrer Obrigkeit entwickeln konnten und noch seltener mit nachhaltigen, tragfähigen Sozialstrukturen bedacht wurden. Man schneidet sich deshalb nach wie vor ein Stück vom großen Kuchen ab, bevor dieser endgültig irgendwo »da oben« verschwindet.

 

 Rousseffs Kompromisslosigkeit bedrohte die Sinekuren aller Couleur und beschleunigte die Dominoreaktion der »Aktion Waschstraße«. Im einstürzenden Kartenhaus gibt es neben Dilma Rousseff nur wenige nicht beschmutzte Namen. Im Übrigen war Rousseff (wie zuvor Lula da Silva) niemals Handlanger der USA. Ihre Entmachtung ist Teil des »Chaos ohne Ende«, der  modernen Variante des Staatsstreichs, der nach Meinung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales noch immer »das Hauptmittel des US-Imperiums« ist (RT, 27.4.17).

 

 

Die Angst vor der Demokratie

Temers Klüngel und seine Hintermänner arbeiten auf die indirekte, da manövrierbare, parlamentarische Wahl eines Übergangspräsidenten hin, der das politische Überleben der Putschkamarilla bis zu den Präsidialwahlen 2018 sichern könnte. Die breite Mehrheit der Bevölkerung und alle demokratischen Kräfte fordern dagegen sofortige Direktwahlen. Ihre Parole »Diretas já« (»Direkte sofort«) nimmt den Schlachtruf von 1984 auf, der das Ende der Militärdiktatur einleitete. Man munkelt aber auch von einem riskanten Kompromiss: Temer tritt ab, verliert aber nicht seine Immunität. Im Gegenzug würde Lula da Silva den fragwürdigen Nachstellungen des Richters Moro entzogen werden. Beide Ex-Präsidenten, der gerechte wie der kriminelle, könnten somit allenfalls noch vom Obersten Bundesgericht belangt werden. Das Parlament aber würde in indirekter Wahl einen Übergangspräsidenten bestimmen – falls sich das gestresste Volk tatsächlich derart hintergehen lässt.