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Titel1317

Conrad Taler zum Neunzigsten  (Renate Hennecke)

Am 29. Juni wird Kurt Nelhiebel alias Conrad Taler 90. Seine klugen Gedanken fehlen in kaum einem Ossietzky-Heft. Manche seiner Sätze – alle zeugen von einer zutiefst humanistischen Haltung – wünscht man sich in großen Lettern an die Mauern deutscher Gerichte geschrieben. Zum Beispiel diesen: »Das Recht von Opfern des Naziterrors, vor Schmähungen geschützt zu werden, darf doch nicht geringer veranschlagt werden als das Recht von Gegnern der Freiheit auf Meinungsfreiheit.« (Ossietzky Nr. 7/2017: »Und sie schämen sich nicht«)

 

Den Zustand der bundesdeutschen Demokratie beobachtet Kurt Nelhiebel seit vielen Jahrzehnten mit großer Aufmerksamkeit. Dass die Front nicht zwischen Nationalitäten, sondern zwischen Nazi-Anhängern und Nazi-Gegnern verläuft, hat er schon als Jugendlicher in seinem böhmischen Heimatdorf am Fuße des Riesengebirges erfahren. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich nach der erzwungenen Umsiedelung gemeinsam mit denen, die vorher nicht laut genug »Heim ins Reich!« schreien konnten, in der Sudetendeutschen Landsmannschaft zu organisieren und, wie viele andere Umgesiedelte, seinen großen Schmerz über den Verlust der Heimat für revanchistische Zwecke missbrauchen zu lassen. Ganz im Gegenteil. In seiner Broschüre »Die Henleins gestern und heute« informierte er über Hintergründe und Ziele des Witikobundes, jener »nationalen Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen«, die eine von drei Säulen (neben der sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde und der katholischen Ackermann-Gemeinde) der Landsmannschaft bildet und deren Mitglieder führende Positionen in dieser übernahmen. Im Vorwort zu dieser Broschüre, die 1962 im Frankfurter Röderberg-Verlag erschien, heißt es: »Sie ist eine Anklage gegen die ehemaligen Führer der ›Fünften Kolonne‹ Hitlers. Diese Anklage würde heute nicht erhoben, wenn die intellektuell mitschuldig Gewordenen sich zum Zeichen ihrer Reue und Scham von der politischen Bühne zurückgezogen hätten. Aber viele der Männer, deren Namen mit der Ausrottungs- und Germanisierungspolitik gegen das tschechoslowakische Volk verbunden sind, zeigen weder Reue noch Scham. Im Gegenteil. Sie erblicken in ihrer Tätigkeit für die Ziele der NS-Ideologie eine Art von Legitimation zu erneuter politischer Aktivität; einer Aktivität, die sich nicht an den Erfordernissen einer auf gutnachbarliche Beziehungen bedachten Politik orientiert.«

 

Gut nachbarliche Beziehungen zur Tschechoslowakei beziehungsweise zu deren Nachfolgestaaten waren für Kurt Nelhiebel immer nur denkbar unter der Voraussetzung, dass auf deutscher Seite eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten während der NS-Zeit stattfand. Dies war und ist auch das Kriterium seiner Kritik an dem Projekt eines Vertreibungszentrums in Berlin, wie es seit dem Jahr 2000 von Erika Steinbach propagiert wurde und zurzeit als staatliches Museum realisiert wird. Selbstmitleidsvolle Versöhnungsrhetorik ist ihm zuwider. In seinem Aufsatz »Die Entkoppelung von Krieg und Vertreibung: zu Manfred Kittels Deutung der jüngeren deutschen Geschichte«, der 2010 in der renommierten Zeitschrift für Geschichtswissenschaft erschien, analysierte er scharfsinnig das geschichtsrevisionistische Konzept des ersten (und später sang- und klanglos in der Versenkung verschwundenen) Gründungsdirektors des Zentrums. In einem ausführlichen Interview mit den Deutsch-Tschechischen Nachrichten (DTN-Dossier Nr. 12, April 2010) widerlegte er kenntnisreich die These, eigentliche Ursache für die Ausweisung der deutschen Minderheiten aus Polen und der Tschechoslowakei sei ein altes Streben polnischer und tschechischer Nationalisten nach der Verwirklichung ethnisch homogener Nationalstaaten gewesen.

 

Sicher war es kein Zufall, dass auch die erneute Veröffentlichung der Berichte von Conrad Taler über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–65) in dem Sammelband »Asche auf vereisten Wegen« durch den PapyRossa Verlag in die Anfangsjahre der Diskussion um das Berliner Vertreibungszentrum fiel. Für die Zeitschrift Die Gemeinde, das offizielle Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, hatte der Autor an diesem Prozess teilgenommen und alle vier Wochen darüber berichtet. »In den Artikeln … erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen«, schrieb er dazu. »Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Das lassen die Texte unschwer erkennen. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.«

 

Den Initiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, kannte Nelhiebel schon vorher. Beide verband dasselbe Bedürfnis, die Deutschen zur Selbstreflexion anzuhalten. Wie schwierig das war, zeigte sich an den Widerständen, die Bauer zu überwinden hatte. 1962 erlebte Nelhiebel mit, dass der Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Eduard Orth (CDU), die Verbreitung eines Aufsatzes des obersten hessischen Anklägers über »die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns« an rheinland-pfälzischen Schulen verbot. Nelhiebel begleitete Bauer zu einem Streitgespräch mit Orth nach Bad Kreuznach, wo jedoch statt des Kultusministers ein junger CDU-Abgeordneter namens Helmut Kohl erschien und ihm in belehrendem Ton erklärte, der zeitliche Abstand sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus fällen zu können. Volle Zustimmung auf Seiten Nelhiebels fanden Bauers Worte: »Ohne Frage nach den Wurzeln des Bösen gibt es kein Heil und keine Heilung. Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«

 

Das Leben und Wirken Fritz Bauers beschäftigt den Jubilar immer wieder. Engagiert verteidigt er ihn gegen Verzerrungen und Entpolitisierung. In Ilona Zioks Film »Fritz Bauer – Tod auf Raten« (2010) verdeutlicht er die politische Großwetterlage in dem Land, in dem ein Hans Globke Staatssekretär im Bundeskanzleramt werden konnte. Wie sehr »der General« seiner Zeit voraus war, erläuterte Nelhiebel in seinem Artikel zum Gröning-Prozess in Ossietzky 25/2016.

 

Lang ist die Liste der Veröffentlichungen, in denen sich Kurt Nelhiebel alias Conrad Taler als aufmerksamer und engagierter Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklungen erweist. Sein Gedächtnis muss phänomenal und sein Privatarchiv umfangreich und beneidenswert gut organisiert sein. 2014 wurde der ehemalige Nachrichtenchef von Radio Bremen mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen geehrt. Für das Bundesverdienstkreuz ist er seit fünf Jahren vorgeschlagen; das Bundespräsidialamt konnte sich bislang dazu nicht durchringen.

 

Pünktlich zu seinem 90. Geburtstag erschien im PapyRossa Verlag der Band »Gegen den Wind« mit »Geschichten und Texten zum Zeitgeschehen 1927-2017«. Der Verlag Ossietzky hat die in seiner Zweiwochenschrift von Conrad Taler erschienenen Texte in einem Sammelband vereint, der im Juni erscheint (Conrad Taler: »Schwejk trifft Candide«, mit einem Vorwort von Otto Köhler, 124 Seiten, 10 €).

 

Wir gratulieren herzlich und wünschen Kurt Nelhiebel alles Gute, Gesundheit und viele weitere Jahre mit schönen Erlebnissen, guten Begegnungen und Freude an seiner spitzen Feder.