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Titel14+1509

Wie ich Hans See kennenlernte  (Manfred Wekwerth)

Bevor ich Hans See kannte, kannte ich seine Stimme. Eine kluge sympathische Stimme, mit der er seine Ansichten stets freundlich und bestimmt vorträgt. Und es ist immer wie eine Einladung, ihm ins Reich überwältigender Fakten seines Wissens zu folgen – mit der Absicht, die Meinung des anderen herauszufordern. Bevor ich Hans See kannte, kannte ich auch die Musik, die ihm gefiel, denn sie wurde als Ergänzung seiner Worte eingespielt. Kurz: Ich lernte Hans See im Radio kennen.

Es war Sonntagmorgen, und wir saßen beim Frühstück. Es wurde ein langes Frühstück, denn wir hatten so etwas im Radio lange nicht mehr gehört. Anderthalb Stunden dauerte die Sendung »Zwischentöne«, in der das Deutschlandradio jeweils eine, wie es heißt, »Persönlichkeit des öffentlichen Lebens« vorstellt und zu Wort kommen läßt. An diesem Sonntagvormittag wurde Hans See vorgestellt, und wir blieben trotz des schönen Sommerwetters kleben. Natürlich trugen dazu auch die Brechtschen Lieder und die Weill- und Eisler-Musik bei, die der Interviewte für die Sendung ausgesucht hatte. Aber den Ausschlag gab diese Stimme, die unaufwendig, mit heiterer Gelassenheit von den großen uns bewegenden und bedrohenden Dingen sprach und das oft rätselhaft Erscheinende in erstaunlich einsehbare Zusammenhänge brachte. Von Kriminalität war da die Rede. Aber nicht von der Kriminalität jener Täter der »Tatorte« oder »Polizeirufe«, die Abend für Abend über die Bildschirme flimmern. Bei See sind es die geachteten Eliten, die die Welt verunsichern. Jene, die durch ihre angeblichen Leistungen angeblich »den riesigen Haushalt der Erzeugung und Verteilung der lebensnotwendigen Güter«, wie Brecht in seinem »Manifest« schrieb, für die Menschen erst nutzbar machen und von deren Erfolgen, wie es heißt, Wohl und Wehe der Menschheit abhängt. Hier sprach einer von verheerenden Folgen dieser Erfolge, von der verordneten Kriminalität herrschender Gesetze, vom Chaos als Folge unternehmerischer Planung, eben von jener »verordneten Unordnung und planmäßiger Willkür«, von der Brecht sprach.

Wir riefen sofort im Deutschlandradio an und wollten die Adresse jenes Mannes, der es verstand, drängende und bedrängende Fragen unserer Zeit so wissenschaftlich fundiert und zugleich mit so viel Humor und Souveränität vorzutragen, daß man nach anderthalb Stunden am Sonntagmorgen beschwingt vom ausgedehnten Frühstück aufstand, obwohl man doch so viel Gräßliches gehört hatte. Es war, als hätte sich ein Vorschlag Brechts erfüllt, dem Schrecklichen nicht nur das Erschrecken abzugewinnen, was ja die Wirklichkeit zur Genüge tut, sondern die Lust, es in seiner Absurdität und absoluten Überflüssigkeit zu erkennen und als unzumutbar für Bewohner dieses Planeten darzustellen.

Das Beschaffen der Adresse oder auch nur der Telefonnummer erwies sich als schwieriger als das eben erlebte Durchdringen der wohlorganisierten Anonymität des modernen Kapitalismus, mit der er sich täglich dem Erkennen seines absurden Wesens entzieht. Adressen und Telefonnummern unterliegen dem Datenschutz, jedenfalls für den normalen Anrufer. Wir mußten zu solidarischer Hilfe greifen und riefen, da der Interviewte Professor für Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main war, bei unserem dortigen Freund Heiner Halberstadt an, den wir noch aus Zeiten rebellischer Unternehmungen kennen (als wir zum Beispiel, um die Erstaufführung von Brechts »Mutter«-Film im Club Voltaire in Frankfurt vor 68iger Studenten zu ermöglichen, die gerade gedrehte Dokumentation der berühmten Aufführung des Berliner Ensembles mit Helene Weigel wie ein Trojanisches Pferd an den Zöllnern beider Seiten vorbei aus der DDR in die BRD schmuggelten, versteckt im Auto eines französischen Freundes, der die riesigen Rollen als Erotik-Filme ausgab). Natürlich kannte er Hans See, die Telefonnummer war schnell beschafft, und der Angerufene war nicht wenig erstaunt, von einem Rundfunkhörer angerufen zu werden, und zwar mit der Bitte, dringend seine Bekanntschaft zu machen.

Heute sind wir Freunde. Wir sprechen, schreiben und denken über vieles gemeinsam und machen auch gemeinsame Veranstaltungen. Ob als »Matinee unter dem Dach« im höchsten Café Frankfurts oder bei Ossietzky in Berlin im Haus der Demokratie. Aber auch abseits des großen Getümmels, wenn wir bei unserem »Lieblingsportugiesen« am Prenzlauer Berg bei mediterranen Genüssen den großen »Krimi« besprechen, mit dem das Kapital täglich, stündlich im Gegensatz zu den Fernsehkrimis real in die Lebenswelt jedes einzelnen eingreift, ohne dafür belangt zu werden.

Auch hier bewundere ich – wie einst im Radio –, wie Hans See den Jahrhundert-Zorn ummünzt in schlagende und handhabbare Analysen, die neben dem Zorn eben jenes enorme Wissen benötigen, soll aus dem bloßen Denken das von Brecht so geschätzte und ach so nötige »eingreifende Denken« werden. So entstand nach den Vorstellungen von Hans See auch die großartige Zeitschrift Big Business Crime – Zur Theorie, Praxis und Kritik der kriminellen Ökonomie, die er Jahrzehnte leitete.

Brecht erfand in seinen frühen Stücken die Figur des »Denkenden«, der sein Denken als umtriebiger Praktiker gewinnt und es ständig in die Praxis zurückführt nach dem Prinzip »Wichtig ist nur, was Folgen hat« oder »Nur was ich verändere, begreife ich«. Das sind Sprüche jenes Denkenden, dem Brecht ein ganzes Stück widmen wollte, sein wichtigstes, wie er meinte. Das Stück wurde nicht zu Ende geschrieben, aber an jenem Sonntagvormittag, als ich Hans See zum ersten Mal im Radio hörte, hatte Brechts Denkender, auch ohne daß das Stück auf einer Bühne erscheint, einen guten Hauptdarsteller. Und ein Text aus dem unfertigen Stück hätte auch im Radio an jenem Sonntagmorgen mit Recht gesagt werden können: »In Zeiten, wo Täuschung gefordert und Irrtümer gefördert werden, bemüht sich der Denkende, was er liest und hört, richtigzustellen.«

Lieber Hans See, Gratulation zum 75.!