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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Oft komme ich am Ballhaus Ost vorbei, weil sich das im Stadtteil Prenzlauer Berg in der Nähe meiner Wohnung befindet. Da treten mitunter bedeutende Schauspieler auf, Anne Tismer oder auch Robert Hunger-Bühler. Leider hapert es meist an guten Texten. Die letzte Aufführung, die mir erwähnenswert erscheint, ist jener Science-Fiction-Abend »Das blaue Meer« von Cristin König – aber der ist schon eine Zeitlang her. Die Vorgänge oder Momente, die man da zu sehen und zu hören bekommt, sollen im Jahr 22976 spielen. Eine Art Computer-Zeitalter-Horror-Show! Alle Hirne aller Menschen sind vernetzt und können gesteuert werden. Eine Frau von 84 Jahren kann angeblich noch Kinder gebären und tut Verruchtes in diesem Steuerungssystem, dabei zerrt sie an ihren langen blonden Haaren und raucht ständig, übrigens Cristin König selbst. Ein anderes weibliches Wesen windet sich in einem Kokon und will uns zeigen, daß sie sich in einer Art Verbannung oder innerem Exil befindet. Die Frau heißt Carla und ist Anne Tismer. Sie erschießt dann den Imperialisten (Hunger-Bühler), doch das bringt auch nichts. Erkenntnis des Abends: Unser Zeitalter war »das depressive«. Wie gut für die Historiker, wenn sie das erfahren. Ansonsten geht man so klug oder dumm heraus, wie man hineingegangen ist.

Wenige Straßenecken weiter findet man das »Kookaburra« (was das auch immer heißen mag) in der Schönhauser Allee 184, wo man »Senkrecht und Pusch« serviert, eine Art Slapstick-Comedy von Pusch, dem Pianisten, und Senkrecht, dem Tolpatsch-Clown. Zwei Männer, die sich in einer Art Haßliebe ewig streiten und nicht voneinander loskommen. Vor 15 Jahren hatte Arthur Schimkat dieses Phantom Senkrecht erfunden, erst vor fünf Jahren kam der Pianist hinzu. Inzwischen ein großartiges Komikerpaar, das an Pat und Patachon oder Laurel und Hardy erinnert.

Es gibt so viele Freie Bühnen, da ist es schwer, den Überblick zu behalten, manchmal auch, sie überhaupt in ihren Hinterhöfen und stillgelegten Werkshallen zu finden. Manche erhalten Auftrittsmöglichkeiten in den Sophiensälen unweit des Hackeschen Marktes. So auch eine Gruppe Studenten der Ernst-Busch-Hochschule, die in der Regie von France-Elena Damian unter dem Titel »Eat my Wonderland« eine freie Adaption von Lewis Carrolls »Alice im Wonderland« auf die Bretter brachten. Die Alice selbst fehlt. Dafür spielt Anne Haug eine Regisseurin, die zeigt, daß die Regie eigentlich nichts vermag. Da wird fast jeder Quatsch nachgemacht, den wir in heutigen Theatern ertragen müssen. Erst nach 90 Minuten öffnet sich durch Umzug vom Foyer in den Saal das Wunderland, in dem Sasha Mateucci als Herzkönigin auf Einkaufswagen hereinrollt. Die jungen Spieler, unterstützt von Federhand-Puppen, spielen vielerlei Rollen, ebenso makabre wie lustige Szenen, mit ziemlich leichter Hand. Auf der Ausgangstür steht »fuck regietheater«. Da regt sich also Widerstand gegen das Regie-, genauer: Regisseurstheater, das das zeitgenössische Theater fast in den Abgrund geführt hat. Bravo!

Eine andere Gruppe namens »theater konstellationen« nennt ihr Programm »Hätte klappen können«, ihr Rahmenprogramm heißt »Wirtschaftswunder«. Sechs Schauspieler sitzen an einem Tisch, labern in Mikrophone, so daß es wie eine Konferenz ausschaut, stellen Bücher vor, zitieren kurze Passagen, Stellen die Zitate aus verschiedenen Büchern wie im Fugato gegeneinander, so daß allmählich ein Bild von Geld und Geldbewegungen, vom Finanzmarkt und seinen Fürchterlichkeiten entsteht. Entlarvend!

Im Ballhaus in der Kreuzberger Naunynstraße leitet Shermin Langhoff seit Ende vergangenen Jahres ein kleines Off-Off-Theater Das Haus soll ein »postmigrantisches Theaterforum« werden. Zur Eröffnung gab es »Café Europa vs. Dog eats Dog« nach dem Roman »Was macht Niyazi in der Naunynstraße?« von Aras Ören, kombiniert mit »Kahvehane: Turkish Delight – German Fright«, adaptiert von David Calis, inszeniert von Mehdi Moinzadeh, einem inzwischen bekannten Fernsehdarsteller. Das war ein Flop. Von etwas gescheiterer Art ist ein Stück mit dem programmtisch-anspruchsvollen Titel »Nathan Messias« von Feridun Zaimoglu (Mitautor: Günter Senkel), inszeniert von dem Filmregisseur Neco Celik. Ein kühnes Unternehmen, sich mit Lessings »Nathan der Weise«, dem großen Lobgesang auf die Versöhnung von Religionen und Kulturen, zu messen. Ein gutes Anliegen – gerade hier im multikulturellen Berlin mit fast 200.000 zumeist muslimischen Türken und Kurden, einer wieder stärker gewordenen Jüdischen Gemeinde, mehreren christlichen Kirchen, vielen weiteren religiösen Gruppen und einem starken atheistischen Bevölkerungsanteil. Das Stück spielt wie das Vorbild in Jerusalem, doch eben in der nunmehr jüdischen Hauptstadt, nicht in einem Kreuzfahrer-Zentrum. Da tritt ein Halbirrer auf, der sich Erlöser oder Messias nennt (Murat Seven) und alle drei Religionen kritisiert. Daneben ein sogenannter Multifunktionsgeistlicher auf Stelzen, der Imam, Priester und Rabbiner sein will. Auch die vertrackte Liebesgeschichte Lessings kommt vor, kaum überzeugend vorgetragen. Philosophisch, politisch und auch theologisch unreif beleidigt dieses Unternehmen nicht nur alle Religionen, sondern vor allem das Publikum.

Wir bleiben in Kreuzberg und zwar beim Theater »Thikwa« (hebr. Hoffnung), einem Theater für körperlich und geistig Behinderte, 1991 gegründet. Seit 2005 hat es eine eigene Spielstätte im Künstlerhof Fidicinstraße 44, noch in diesem Jahr soll es eine neue in einer Werkhalle bekommen, außerdem hat es eine Werkstatt in der Oranienstraße. Die etwa 20 Darsteller bilden ein richtiges Ensemble, geleitet von der Kunsttherapeutin Gerlinde Altenmüller. Sie bringen jedes Jahr mehrere Aufführungen, von denen jede 10 bis 20 Vorstellungen erlebt, das ist viel für ein Laien-Ensemble. Einige Darsteller sind schon lange dabei. Ich sah zuletzt »Max und Moritz« mit Peter Pankow (rot-grün) und Torsten Holzapfel (grün-rot), inszeniert von Günter Grosser. Zu meiner Freude spielen die beiden nicht den richtigen Wilhelm Busch, den ich nicht mag, sondern ihren eigenen, meist zeitkritischen. Außerdem variieren sie oft – der gestrige Abend ist meist nicht wie der morgige. Da wird sehr hart gearbeitet – von Menschen, die doppelte Kraft für ein normales Pensum aufbringen müssen. Sie erhalten Subventionen, doch wird der bürokratische Aufwand immer größer. Hier ist künstlerische Arbeit Therapie. Große Hochachtung vor »Thikwa«.

Gleichsam im Vorübergehen erwähne ich noch einmal die Anfang des Jahres hier vorgestellte Berliner Compagnie mit ihrer starken Polittheater-Show »Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch«, ebenfalls in Kreuzberg. Blamabel dagegen das »Theater Strahl«, das in der Gedenkstätte Hohenschönhausen auftritt, dem ehemaligen Staatssicherheitsgefängnis der DDR. Ein junger Mann namens Marko wollte die DDR illegal verlassen, wird gefaßt, kommt in dieses Gefängnis, wird verhört, später ausgeliefert und kommt in ein neues Schlamassel. Ein Spitzelstück – abgenutzt, langweilig, Billigware.