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Bemerkungen

Angetreten
Ihr, die ihr jetzt in Zinksärgen liegt,
die eine Maschine nach Hause fliegt
von Afghanistan ins Heimatland:
Ihr seid schon in Wochen unbekannt.
Jetzt ist noch Zeit, wo man vor euch
verharrt.
Bald werden viele hastig verscharrt.
Für Minuten seid ihr im
Scheinwerferlicht.
Während ein Staatsmann von Trauer
spricht
– ihr hört ihn nicht und den Pfarrer nicht
beten –,
schreit schon ein Hauptmann:
»Angetreten!«
Denn die nächsten stehen an eurer
Stelle.
Der Tod ist ein hungriger Geselle.
Zu Hause sitzt ein Vater stumm
in der verwaisten Wohnung herum
und weiß nicht, was soll er der Mutter
sagen.
Und keiner hört ihre lauten Klagen.
Glaubt nicht die größte Lüge von allen:
Ihr wärt für unseren Schutz gefallen.
Fünfundsechzig Jahre ist es her,
da hieß es auch schon »Präsentiert das
Gewehr!«
Es folgte ein würdiger Ehrensalut.
Und damit war alles gleich wieder gut.
War alles wieder gut?
Schnell ist das Gedächtnis zu verhexen.
Längst trauert die Welt um Michael
Jackson.

Wolfgang Eckert


Eine Nacht für Mühsam

75 Jahre nach der Nacht, in der sich Erich Mühsam im KZ Oranienburg angeblich selbst das Leben genommen hat, trafen sich Geistesverwandte und Spurensucher im Berliner Gedenkpark Lehrter Zellengefängnis zu einer literarisch-musikalischen Nachtwache bis 7 Uhr früh. In diesem Gefängnis hatte der anarchistische Schriftsteller einst qualvolle Monate in Einzelhaft verbracht. Der von der ehemaligen Gefängnismauer umgebene Park ist ein Ort bedrückender und besinnlicher Stille in unmittelbarer Nähe des lichtgleißenden Hauptbahnhofs, von dessen S-Bahnsteigen der Nachtwind dann und wann den Warnruf »Zurückbleiben!« herüberblies. Nach Zurückbleiben stand aber den zeitweise 200 Anwesenden nicht der Sinn. Sie gingen ergriffen mit, wenn Schauspieler aus Mühsams Texten rezitierten. Sprecher der Akademie der Künste und des Zimmertheaters Karlshorst, der Tucholsky- und der Traven-Gesellschaft und anderer Institutionen und Vereinigungen bezeugten die Aktualität dieser Texte. Zum vielfältigen Programm gehörten auch der beeindruckende musikalische Auftritt der Gruppe »Geigerzähler«, die Forschungsergebnisse der Dokumentaristin Uschi Otten über den grausamen Lebensweg der tapferen Zenzi Mühsam, Gedichte der zu Unrecht fast vergessenen Mascha Kaleko und Kurt Tucholskys knappe Wahrheiten. Zufällig ergab sich am Abend ein Kontakt des Organisators und Moderators Ralf Landmesser mit Ingrid Kröning, Ensemblemitglied des Zimmertheaters Karlshorst, deren Vater ebenfalls harte Wochen im Zellengefängnis Lehrter Straße durchleiden mußte, bevor sich seine Spur im KZ Sonnenburg verlor. Sie selbst verbrachte ihr erstes Lebensjahr im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße, in dem ihre Mutter wegen kommunistischer Kuriertätigkeit inhaftiert war. Ihr Bericht war eine unerwartete Bereicherung des Programms. Sie sprach auch über den Krieg in Afghanistan und über die dort ums Leben gekommenen Bundeswehr-Soldaten, bei denen wohl weder Mühsams Mahnungen noch der Ruf »Zurückbleiben!« angekommen waren.
Wolfgang Helfritsch


Dokument aus dem Jahre 1944

Daß das Buch »kein Hit« ist, spürte Hans Fallada schon während der Arbeit daran im Herbst 1944 in der Haftanstalt. Heimlich und unter Gefahren wollte er sich seinen Frust von der Seele schreiben. Ins Gefängnis war er gekommen, weil er schwer betrunken während eines Streits auf seine Frau geschossen hatte. Aber nicht mit privaten Problemen wollte er sich befassen, sondern mit den Nazis, mit ihnen wollte er abrechnen und sich selber wohl ein bißchen rechtfertigen: warum er in Deutschland geblieben war, welche Erfahrungen er in dieser Zeit bei Film und Verlagen gemacht hatte ...

Doch die große Absicht gerät kleiner und kleiner, und die Rechtfertigung wirkt, nachdem man von den Lebenslagen der Emigranten weiß, wie die eines Kindes, das allemal anderen die Schuld am eigenen Tun gibt. Das Kind ist er wohl immer geblieben, die Grenzen des Schriftstellers und politischen Menschen werden peinlich deutlich: Er hat zwar einen genauen Blick und Sinn für einzelne Menschen, aber größere Durchsicht bleibt ihm verschlossen. Selten kommt der Erzähler zum Zug, alles wirkt kleinkariert, Fallada entlarvt sich als Kleinbürger, der über seinen Schatten springen möchte, aber nicht kann.

Dennoch halte ich es für ein wichtiges Buch. Es vervollständigt das Bild des Autors, und es gibt auch Auskunft über die Geisteshaltung vieler anderer Kleinbürger. Ende 1944 dämmerte es ihnen allmählich, daß der Krieg und das Nazi-Regime verloren waren. Aber die Schuld an der Misere gaben sie – das war bequemer und ganz nach ihrer Art – den »Juden« und anderen, nur nicht sich selber. Sie vermieden es, klar Stellung zu beziehen. Mitleid hatten sie vor allem mit sich selbst. Das Tagebuch ist so authentisch wie kaum ein ähnliches Dokument.
Christel Berger

Hans Fallada: »In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944«, Aufbau Verlag Berlin, 332 Seiten, 24,95 €


Das andere Deutschland

»Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich Das Andere Deutschland von seinen Freunden und Mitarbeitern, von der großen Gemeinschaft seiner Leser im In- und Ausland.« So beginnt der Artikel auf der Titelseite der letzten Nummer des Anderen Deutschland, das vor 40 Jahren, im Juni 1969, sein Erscheinen einstellte. Den vergilbten Zeitungsausschnitt entdeckte ich kürzlich in meinem Archiv. Er erinnert an jene Zeit der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, in der die Auseinandersetzung um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ihrem Höhepunkt zustrebte – und an den Herausgeber und Chefredakteur Fritz Küster, der sich den ewig Gestrigen, die nicht sehen wollten, was Hitler dem deutschen Volk als Erbe hinterlassen hatte, mutig entgegenstellte. Von ihm und den vielen Gleichgesinnten spricht in diesem Jahr der Gedenktage niemand.

Als ich Ende der 1950er Jahre mein Glück als politischer Karikaturist versuchte, druckte Fritz Küster als erster eine meiner Zeichnungen ab. Noch heute rechne ich es mir als Ehre an, zu den journalistischen Mitarbeitern dieser unabhängigen Zeitung für entschiedene demokratische Politik gehört zu haben.

Hervorgegangen war das Blatt auf Initiative von Fritz Küster 1925 aus der von ihm 1921 gegründeten Monatsschrift Der Pazifist. Es verstand sich als Publikationsorgan der deutschen Friedensgesellschaft, die Fritz Küster als gleichberechtigter Vorsitzender neben dem Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde leitete. Mit einer Auflage von 40.000 Stück stand Das Andere Deutschland 1928 an der Spitze der pazifistischen Presse. Viele Autoren der Weltbühne publizierten auch dort, unter anderen Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Nach dem Machtantritt der Nazis wurde die Zeitung verboten und Fritz Küster von 1933 bis 1938 in verschiedene KZ’s gesperrt. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs rief er, resolut und streitbar wie er war, die Zeitung mit dem ruhmreichen Namen wieder ins Leben. Er selbst starb drei Jahre vor dem endgültigen Ende seines Lebenswerkes.

»Unsere Gegner aber sollten nicht zu früh triumphieren«, heißt es im Abschiedsartikel von Heinz Jürgen Furian. »Das andere Deutschland, als dessen Sprachrohr sich diese Zeitung seit ihrer Gründung im Jahre 1925 verstanden hat, das demokratische und humanistische Deutschland, das immer den Gegenpol zu den reaktionären Machthabern unseres Landes bildete und sich ihren Plänen und Untaten kämpferisch widersetzte – dieses Deutschland lebt und ist seiner Zukunft gewiß. Der Kampf geht weiter.«
Conrad Taler


Aus der Medienstadt Hamburg
Die Hamburger Großverlage werden derzeit »dem Wettbewerb angepaßt«. Das verkünden seit Wochen die Verleger. Für die Redaktionen bedeutet das allemal Entlassungen. Wie das geht, machte Gruner + Jahr, der Zeitschriftenverlag des Bertelsmann-Konzerns, der Branche vor. Um Personalkosten zu sparen und die Arbeitskraft möglichst effizient zu nutzen – um sie besser auszubeuten, wie man nicht sagt –, wurden drei Wirtschaftspresse-Redaktionen des Verlages G+J (Capital, Impulse und Börse online) in einem Großraumbüro zu einer einzigen zusammengelegt. Der Konzern sieht sich zum Sparen gezwungen, da ihm die Werbeeinnahmen wegbrechen. Nicht nur bei den Printmedien. Auch der konzerneigene Fernsehsender RTL macht in der derzeitigen Werbeflaute keine Gewinne. Deswegen mußten Redakteure der drei Wirtschaftsmagazine gehen.

Der Springer-Verlag vernichtet Arbeitsplätze auf andere Weise. Als erstes zog 2008 die Zentralredaktion der Bild-Zeitung von Hamburg nach Berlin um. Dabei gingen zahlreiche Arbeitsplätze verloren. Trotz überdurchschnittlicher Rendite des Verlages kam es vor kurzem bei Springers Hamburger Abendblatt zu Kündigungen. Per E-Mail wurden die Betroffenen zu einem Gespräch mit Chefredakteur Claus Strunz gebeten, der ihnen schnörkellos verkündete, daß sie nicht mehr gebraucht würden und unter Mitnahme der persönlichen Dinge das Haus sofort zu verlassen hätten. Unter den mehr als 30 Gekündigten sind Redakteure und Redaktionsmitarbeiter, die mehr als drei Jahrzehnte für das Hamburger Abendblatt gearbeitet haben, Und auch eine Schwerbehinderte, für die es, so Strunz, keinen Schutz gibt.

Schon 60 Jahre hat die Deutsche Presse Agentur (dpa), ein Gemeinschaftsunternehmen von Verlagen und Rundfunkanstalten, ihren Sitz in Hamburg. Nun soll auch sie von der Elbe an die Spree umziehen, und wiederum werden nicht alle Mitarbeiter mitziehen. So können gleichfalls Arbeitsplätze eingespart werden.

Der Jahreszeiten-Verlag (Für Sie, Der Feinschmecker und etliche andere Blätter) führt für seine rund 500 Mitarbeiter am 1.August Kurzarbeit ein. Auch er klagt über den großen Schwund im Anzeigengeschäft. Man muß solche Klagen nicht unbedingt wörtlich nehmen, Verleger haben immer geklagt und dabei viel verdient. Aber wenn die Lohnsumme schrumpft, wenn die Lohnabhängigen, vor allem die Arbeitslosen, deren Anzahl wächst, immer weniger Geld zum Ausgeben haben, dann gibt es eben weniger Nachfrage, die zu umwerben wäre, und manche Konsumgüterhersteller, denen das Geld knapp wird, sparen an ihren Werbeetats. Die Großverlage leben – anders als Ossietzky – hauptsächlich von Anzeigen der Konsumgüterindustrie. Und deswegen rühmen und preisen die Konzernmedien – anders als Ossietzky – weiterhin die Segnungen des Kapitalismus. Redakteure, die daran nicht mitwirken mögen, sind allemal unerwünscht. Dürfen gehen.

Was Großverleger von Gewerkschaftern halten, sagte jüngst in einem Interview Heinz Bauer, der massenweise Frauenblätter, Fernsehprogramm-Zeitschriften, Romanhefte (darunter solche, die den deutschen Wehrmachtssoldaten heroisieren) und vieles mehr an die Kioske liefert. Auf die Feststellung, daß er die Vorsitzende des Betriebsrates noch nie empfangen hat, gab er die knappe Antwort: »Ich wüßte auch nicht, worüber ich ein konstruktives Gespräch mit ihr führen sollte.«
Karl-Heinz Walloch


Walter Kaufmanns Lektüre

Die Fakten reichen. Christoph Links polemisiert nicht, er stellt fest, sachlich und genau, und erweist sich dabei als ein Ermittler ersten Ranges. Das darf ich als einer, der einst in etlichen DDR-Verlagen publizierte, mit Fug und Recht sagen – und mich bei der Betrachtung seines Buches über das Schicksal der DDR-Verlage auf diejenigen beschränken, mit denen ich vertraut war: den Greifen Verlag in Rudolstadt, den Berliner Verlag der Nation, die Verlage Neues Leben und Volk & Welt, den Mitteldeutschen Verlag in Halle und den Rostocker Hinstorff Verlag.

Am übelsten wurde 1991 dem Greifen Verlag mitgespielt: Von dem fränkischen Geschäftsmann Jürgen Pröhner um die Verkaufssumme von (lächerlichen) 20.000 DM geprellt, ging er in Konkurs und geriet im folgenden Jahr trotz eines Aufbaukredits von mehr als einer Million DM in neue Schwierigkeiten, nachdem ein Gesellschafter namens Birchmeier 200.000 DM eigenmächtig in die Schweiz transferiert hatte. Und so geht es mit Greifen zu Ende. »Die Rechte«, bemerkt Christoph Links, »fallen an die Autoren zurück, der Buchbestand wird verramscht.«

Dem Verlag der Nation hilft es 1990 wenig, daß 790 Autoren, unter ihnen Rolf Hochhuth, Walter Jens, Friedrich Schorlemmer, gegen eine geplante Liquidierung angehen; im Jahr 1992 gelangt das Unternehmen an den Bayreuther Verleger D. H. Klein, wird später nach Norddeutschland an den Kaufmann Ingwert Paulsen abgegeben, unter dessen Ägide bis zum Jahr 2001 jeweils etwa drei bis vier Titel erscheinen, wonach »die Mitgliedschaft des Verlages der Nation im Börsenverein beendet« wird. Ein Trauerspiel – das sich auf ähnliche oder andere Weise bei den Verlagen Neues Leben und Volk & Welt wiederholt: 2003 werden die Tochtergesellschaften der Bertelsmann-Verlagsgruppe mit der Random House GmbH verschmolzen, »womit auch Volk & Welt zu einer Mantelgesellschaft ohne jede operative Bedeutung« wird.

Es jammert einen, im Lesen fortzufahren: »Da sich kein Interessent für den ganz auf DDR-Literatur spezialisierten Mitteldeutschen Verlag findet, bietet Verlagsleiter Eberhard Günther ein Management Buyout an«, was Umprofilierung auf Kommunikationsliteratur und Reduzierung der Belletristik-Sparte zur Folge hat. Und wäre später nicht eine Auffanggesellschaft gebildet worden, gäbe es den einst renommierten Verlag schon lange nicht mehr ...

Was den nicht weniger renommierten Hinstorff Verlag angeht: »Die Treuhand gibt im Oktober 1991 der auf Telefonbücher und Computerzeitschriften spezialisierten Heise Medien Gruppe Hannover den Zuschlag« – was nichts anderes bedeutet, als daß ein Verlag, der am Ende der DDR mehr als 40 Mitarbeiter hatte und mit seinen 77 Titeln 1988 einen Umsatz von 7,3 Millionen Mark erzielte, zehn Jahre später nur noch acht Leute beschäftigt, die den eigentlichen Buchverlag am Leben halten ... Kein Lichtblick demnach? »Zum 1. Januar 2006 verkauft der 77-jährige Konrad Reich seinen (nach der Wende) gegründeten Verlag an Hinstorff, wo er unter dem Label Edition Konrad Reich fortgeführt wird« – das immerhin! Insgesamt erscheinen bei Hinstorff pro Jahr fortan 30 bis 40 neue Titel, was angesichts der allgemeinen Post-Wende-Misere beachtlich ist, jedoch gemessen an den einstigen Erfolgen der mehr als vierzig DDR-Verlage, deren Schicksal Christoph Links mit Akribie nachgegangen ist, wenig zählt.
W.K.

Christoph Links: »Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen«, Ch. Links Verlag, 352 Seiten, 24.90 €

Natürlich geschieht es, daß man ein zur Besprechung vorgelegtes Buch nicht zu Ende liest – bei dem Roman »Himmelsbrück« von Joachim Walther, der von Anbeginn durch Wortwahl, Stil, Tempo und Originalität besticht, will ich es erklären.

Nicht zu leugnen ist, was er dem Leben in der DDR der siebziger/achtziger Jahre an Bedrängnissen anlastet, das alles wird seine Entsprechungen in der Wirklichkeit gehabt haben – und dennoch! Mir kommt das zu geballt daher, die Gewichte scheinen mir einseitig verteilt zu sein. Es gibt kein Aufatmen für den Maler Matthias Mey, keinen Lichtblick. Seine Bemühungen um eine Bildergalerie im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg erweisen sich als zum Scheitern verdammte Sisyphos-Mühen: Stasi-Agenten werden zu den perfidesten Methoden greifen, um nicht genehme Ausstellungen zu verhindern, werden nicht vor der Verschmutzung des Eingangs und des Treppenhauses mit Kot und gebrauchten Kondomen zurückschrecken, kurzum, es wird ihnen gelingen, den Maler und seine Geliebte in die Isolation einer Mecklenburger Einöde zu vertreiben. Aber auch dorthin reicht ihr Arm, so daß es dem Maler lange nicht gelingt, ein Anwesen zu erstehen, in dem er und seine Ria sich gänzlich absondern und der Liebe überlassen können – zum Himmel schreiender Liebe, wie zu erfahren ist, denn Rias Liebesschreie gellen durch die Nacht. Und nach so manchem Beischlaf streunt sie ruhelos durch die Landschaft. Des Tags umgibt sie sich mit Tieren, denen sie Namen verleiht: Rammler Kolossos und dessen Zippen Gisela, Vera, Inge und Margot, Katzen auch und ein Schafbock, der »blöd bleckend seine Anna-Amalia« beriecht, sowie Hahn Ajatolla und viele Hühner. Woher wohl die Mittel für Ankauf, Ausbau und Instandhaltung dieser »Arche« kommen? Man erfährt, daß die in der DDR verpönten Bilder des Matthias Mey auf geheimen Wegen nach Hamburg gelangen. Und Westgeld ist in Mecklenburg Gold wert. Dem schon nachmittags meist total betrunkenen Handwerker genannt Rübe, der zuweilen auf dem Anwesen hilft, ist es viel Mühe wert. Wenn man ihn aber von seinen Mecklenburger Mitmenschen erzählen hört, kann einem das Grausen kommen – es schwelt unter der Oberfläche, allgemeine Verkommenheit ist die Norm, auch sexuelle, und die LPG ist eine ökologische Bedrohung.

Typische Menschen in typischen Umständen forderte einst der unsägliche Sowjetideologe Shdanow. Bis hin zu dem Augenblick, als Rias vom Leben arg gebeutelte Mutter besuchsweise auftaucht (dankenswerterweise bleibt die Unerträgliche nur kurz), findet sich der Leser, fand ich mich nahezu ausschließlich mit einer Ansammlung untypischer Menschen in untypischen Umständen konfrontiert. Zuviel erwies sich mir als viel zuviel, und so hat mich Joachim Walther trotz seiner Bildhaftigkeit und seines Sprachgeschicks als Leser verloren.
W.K.

Joachim Walther: »Himmelsbrück«, Mitteldeutscher Verlag, 279 Seiten, 19.90 €

*

Hätte Paul Schreyer sich Shriver genannt und im Impressum vermerken lassen »aus dem Amerikanischen«, es würde so hingenommen werden: »Die Amerikanische Nacht« wirkt authentisch in jeder Hinsicht – Plot, Akteure, Kolorit – und liest sich wie beste amerikanische faction. Die 49 kurzen Abschnitte sind stimmig und überzeugend – mit Dialogen, die präzise in der Sprache geschrieben sind, wie sie gebildete, begüterte Amerikaner der Ostküste sprechen, in Washington, Long Island und New York. Auch die Brüder Ramón und Omar Garcia, beide aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegen, der eine über die Yale Law School zum anwaltlichen Berater einer im Irak engagierten Ölfirma, kann man sich so vorstellen. Schreyer hat ein Gespür für Amerikaner an den Schalthebeln der Macht. Seine Kenntnisse befähigen ihn, Intrigen darzustellen, die einen jungen Präsidenten zwingen, seinen im Wahlkampf versprochenen Wandel abzuschwächen, wenn nicht gar das Gegenteil zu tun. Ob ihm Gefahren vorschwebten, denen auch ein Barack Obama ausgesetzt ist? Jedenfalls liegt der primäre Wert des Romans in einer solchen Vorwarnung. Hat noch vor nicht allzu langer Zeit ein Stern-Reporter in Paul Schreyer den fähigen Rechercheur erkannt, der seinem Vater, Wolfgang Schreyer, die Fakten für den 9/11-Roman »Die Legende« zu liefern imstande war, so müßte er ihm heute den Sprung zum eigenständigen Autor bescheinigen – einen Sprung mit Verve!
W. K.

Paul Schreyer: »Die Amerikanische Nacht«, Bezug nur über die Website www.die-amerikanische-nacht.info, 12 €

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Mir gefällt – auch anderen wird es so gehen –, daß Ursula Priess die »Bestandsaufnahme« ihres Verhältnisses zum berühmten Vater assoziativ und nicht straff autobiographisch angelegt hat, in prägnanten Einzelbildern also, die sich zu einem Mosaik fügen. Wer erwachsene Töchter hat, wird das Buch an sie weiterreichen wollen, damit sie an den Auseinandersetzungen zwischen Max Frisch und seiner Tochter die Beziehungen zum eigenen Vater überprüfen mögen: Liebe, Eifersucht, Zwietracht, das Auf und Nieder ihrer Gefühle. Auch der Gefühle zur Mutter. Oder zu der anderen Frau weit weg im Verborgenen.

Gegen Ende des Buches findet sich ein Brief des Schriftstellers, der wie folgt schließt: »Vielleicht brauche ich auch deine Hilfe einmal. Es wird jetzt alles gegenseitiger. Werden wir einander begleiten? Ich hoffe es ... ich wünsche es, ich bin bereit dafür.« Bis über des Vaters Tod hinaus wird Ursula Priess sich vorwerfen, den Brief mitsamt dem Versprechen und der Bitte darin »weggepackt und vergessen« zu haben. Und fragen wird sie sich, warum ihr Vater Zeilen, die sie ihm einst zusammen mit Christrosen geschickt hatte, nicht aufbewahrte – »im Archiv sind sie nicht«.

Durch das ganze, auf seine Art kunstvoll gestaltete Buch, das sie nach einem Satz aus Frischs »Gantenbein«-Roman »Sturz durch alle Spiegel« nennt, spürt man einen Hauch von Wehmut. Was wäre gewesen, wenn dies nicht geschehen wäre oder jenes nicht? Und wie ein Aufatmen mutet es an, daß nach all den Irrungen und Wirrungen, dem jahrelangen Zwiespalt zwischen den beiden es doch zu einer Versöhnung kommt – im Wohn- und Arbeitsraum des Schriftstellers, in dem das Pflegebett stand, das er das »Endbett« nannte.
W.K.

Ursula Priess: »Sturz durch alle Spiegel – Eine Bestandsaufnahme«, Ammann Verlag, 176 Seiten, 18.95 €


Stempel & Ripkens

Die Nimmermüden aus München, Hans Stempel & Martin Ripkens, haben sich wieder zu Wort gemeldet. Sie haben sich einen munteren, ermunternden Spaß gegönnt. Sie haben die Erzählung »Liebe vielleicht« geschrieben. Stempel und Ripkens, die sich darin gefallen, Deutschland beständigstes Männerpaar zu sein, wollten sich unterhalten. Sie haben unterhalten. »Liebe vielleicht« ist anspruchsvoll wie die Autoren. Anspruchsvolle Unterhaltungslektüre für einen angenehmen Nachmittag.

Als Prosaisten profitieren Stempel & Ripkens von ihrer Freude am Film und ihrer Liebe zur Literatur. Ihr Sinn für Szenen und Handlungsfolgen schützen den Text von Trivialität. Die Autoren steigern und steigern die Spannung des Zwei-Personen-Stücks von Kapitel zu Kapitel und scheuen schließlich nicht einen melodramatischen Schluß.

Spürbar gewollt ist »Liebe vielleicht« auch Bildungslektüre. Vor allem aber eine originelle Schwulen-Story, die kein gedroschenes Stroh drischt.
Bernd Heimberger

Hans Stempel & Martin Ripkens: »Liebe vielleicht«, Querverlag, 114 S., 14.90 €


Brief aus Moskau
Die Regierung hat ihren Entwurf für die nächste Reform des Rentensystems in die Staatsduma eingebracht. Dabei verhüllte sie den eigentlichen Sinn des Vorhabens so geschickt, daß sogar die Fachleute auf Anhieb nicht begriffen: Werden die Altersgelder erhöht oder verringert? Die neue Rentenformel ist so formuliert, daß sie unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungen zuläßt.

Eins steht aber schon fest: Diskriminiert werden wiederum die Akademiker, wie ich es schon nach der vorigen Reform am eigenen Leibe zu spüren bekommen habe. Bei der Berechnung des Rentenalters und letztlich des Rentenbetrags erlebte ich die unangenehme Überraschung, daß fünf Jahre Studium an der Moskauer Universität nicht mitgerechnet wurden, desgleichen weitere drei Jahre Aspirantur an der Akademie der Gesellschaftswissenschaften samt Promotion. Also insgesamt acht Jahre waren futsch. Der Staat stempelte mich rückwirkend für diesen Abschnitt meines Lebens zum Schmarotzer, Herumtreiber, Nichtstuer. Und dabei soll es nach dem Willen der Regierung bleiben. Dank diesem Algorithmus werden die Strafgefangenen eine bessere Altersversorgung erhalten als die Universitätsprofessoren.

Die Rente in Rußland ist ohnehin kläglich. Man bekommt weniger als ein Viertel vom vorherigen durchschnittlichen Arbeitslohn. Und die Botschaft an die jüngeren Generationen ist klar: Die Regierenden brauchen nicht die gebildeten, sondern die loyalen Bürger.

Schlimme Nachrichten kommen selten allein. Viele Familien werden gegenwärtig landesweit zur Kasse gebeten: Sie sollen fällige Hypothekenzinsen abzahlen. Noch vor einigen Monaten haben die Machthabenden unermüdlich der Bevölkerung eingehämmert, wir sollten uns Wohnungen auf Kredit anschaffen, das sozialistische Zeitalter der unentgeltlichen staatlichen Wohnungen sei vorbei. Jeder müsse sich nun selbst um die eigenen vier Wände und das Dach über dem Kopf kümmern.

Allein in der Region Altai (Westsibirien) sind gegen 3.000 Hypothekenschuldner, die meisten mit Kindern, Gerichtsurteile ergangen, nach denen sie auf die Straße zu setzen sind. Ihre Wohnungen werden zwangsversteigert. Eine andere Bleibe gibt es nicht. Die armen Teufel haben keine Chance, mindestens einen Teil dessen, was sie der Bank gezahlt haben, zurückzubekommen, denn die Wohnungspreise sind im Keller.

Die Staatsdiener bleiben selbstverständlich von solchen Sorgen verschont. Die Komsomolskaja Prawda brachte jüngst einen Beitrag über unsere hohen Beamten. Von großer Wichtigkeit sind – trotz Krise – die neuen Dienstwagen. Es müssen die teuersten Modelle sein, die der Steuerzahler ihnen finanziert.

Zum Troste gereichten uns immerhin die Nachrichten über die britischen Minister, die im Frühjahr reihenweise zurücktreten mußten. Sie zeigten uns, daß wir mit der regierenden Korruption nicht allein auf der Welt stehen.
Sergej Guk


Press-Kohl
Die Stadt Oldenburg, westlich von Bremen und südwestlich von Bremerhaven gelegen, will so schnell wie möglich zu einer Stadt der Wissenschaft werden und ernennt sich vorsichtshalber schon heute zu einer »Übermorgenstadt«. Das klingt ein bißchen nach Faschingsstolz. Doch in Oldenburg regieren keine Karnevalsprinzen. Einmal im Jahr hat dort vielmehr ein Grünkohlkönig das Sagen, wie Hans Schloemer in der Berliner Zeitung berichtet. Der Reporter befragte ein junges Pärchen in einem Café der Übermorgenstadt nach Oldenburger Geistesgrößen. Ratloses Schweigen. »Doch dann kommt er doch, der Geistesblitz: ›Dieter Bohlen ist hier geboren!‹«

Die Bewohner der schönen Stadt scheinen, wenn wir Schloemer glauben dürfen, die Erfüllung ihrer Bürgerpflichten sehr ernst zu nehmen. »Samstags scheint der Genuß des Eintopfs aus der Fleischerei Monse in der Mottenstraße erste Bürgerpflicht. Dort trifft sich ganz Oldenburg an den Stehtischen vor der Metzgerei.«

Ganz Oldenburg an Monses Stehtischen! Die Stadt hat mehr als 130.000 Einwohner. Wie viele Stehtische hat Meister Monse? »Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, am Grünkohltisch bis übermorgen stehn!«
Felix Mantel