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Befreiung durch Zerstörung und Vertreibung  (Joachim Guilliard)

Vier Wochen nach Beginn einer groß angelegten Offensive gelang es der irakischen Armee gemeinsam mit schiitischen Milizen den größten Teil Falludschas einzunehmen. Den Erfolg verdankt sie auch der massiven Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe. Schon seit Monaten war die vom »Islamischen Staat« (IS, oder arabisch despektierlich Daesch) kontrollierte, nur 50 Kilometer westlich von Bagdad am Euphrat liegende Großstadt von den Regierungstruppen hermetisch abgeriegelt und ununterbrochen bombardiert worden. Die Lage der in der Stadt verbliebenen über 100.000 Bewohner war verzweifelt. Sie saßen fest, und es gab keine sichere Route, um zu entkommen.

 

Dennoch begrüßten sie die Angreifer nicht als Befreier. Als diese am 17. Juni überraschend ohne Gegenwehr ins Zentrum vorstoßen konnten, ergriffen die meisten Familien die Flucht. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) gelang es rund 70.000 Menschen, die Öffnung von Verteidigungsstellungen nutzend, die Stadt zu verlassen, 60.000 weitere werden noch erwartet. Insgesamt seien bald 150.000 Bürger Falludschas dringend auf Hilfe angewiesen. Auch eine Woche danach halten die Kämpfe in der Stadt an. »Der Schlacht folgt Verwüstung« melden »eingebettete« Reporter der Nachrichtenagentur Associated Press, aus den von Regierungstruppen eingenommen Vierteln. Die Stadt droht, wie die zuvor »befreiten« Städte Tikrit und Ramadi, zur Geisterstadt, zu werden.

 

Falludscha ist vermutlich die irakische Stadt, die am stärksten von Krieg und Besatzung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nach dem zweiten Großangriff US-amerikanischer Truppen 2004 waren siebzig Prozent aller Gebäude verwüstet. Die Stadt wurde zum »Guernica der arabischen Welt«.

 

2013 war Falludscha eine Hochburg der starken Protestbewegung, die sich im Laufe des Jahres in den mehrheitlich sunnitischen Provinzen ausgebreitet hatte und sich vor allem gegen die wirtschaftliche Benachteiligung und politische Marginalisierung der sunnitischen Bevölkerung durch das von schiitisch-islamistischen Parteien dominierte Regime richtete, das im Zuge der US-Besatzung etabliert worden war.

 

Nachdem Regierungstruppen bei der Auflösung eines großen Protestcamps im Zentrum Falludschas erneut ein Blutbad angerichtet hatten, ging die Bevölkerung auf die Barrikaden und jagte sie aus der Stadt. Die Kontrolle übernahm ein aus Stammesführern, ehemaligen Armee-Offizieren, Geistlichen und andere führenden Persönlichkeiten gebildeter »Militärischer Rat«. Die Einheiten des Daesch, die die Situation auszunutzen suchten, wurden zunächst an den Stadtrand verbannt. Die Regierung unter Nuri al-Maliki verweigerte jegliche Verhandlungen mit den Repräsentanten der Stadt, in der damals mehr als 300.000 Menschen lebten, und ließ sie unter Beschuss nehmen. Die Bürger Falludschas hatten nichts für den Daesch übrig, so die transatlantische Denkfabrik International Crisis Group (ICG) in ihrem Report über die Ereignisse; aber die fortwährenden Angriffe steigerten Woche für Woche den Hass auf Zentralregierung und Armee, während die sunnitischen Dschihadisten halfen, deren Angriffe immer wieder zurückzuschlagen. Dies wiederum konnte die Regierung zur Rechtfertigung weiterer Angriffe nutzen – ein Teufelskreis, so die ICG, aus dem die Stadt nicht herauskam. Mit dem Erstarken des Daesch und der Ausweitung seiner Herrschaft über große Teile Westiraks wurde er auch in Falludscha zur dominierenden Kraft.

 

Berichte über Zusammenstöße zwischen Dschihadisten und anderen Kämpfern zeigen, dass er nicht unangefochten herrschte. Doch wie stark auch die Differenzen waren, die Feinde vor den Toren, wurden von der Mehrheit der Bewohner als wesentlich schlimmer angesehen.

 

Die Bürger Falludschas hatten gute Gründe, die »Befreier« zu fürchten. In vielen sunnitischen Städten und Dörfern folgten der Eroberung durch Armee und Milizen Plünderung, Brandschatzung und Massaker an der verbliebenen Bevölkerung, die durchweg als Daesch-Anhänger behandelt wurden, so zum Beispiel im August 2014 in Amerli und im April 2015 in Tikrit. Das Vorgehen nahm in vielen Gebieten den Charakter einer »konfessionellen Säuberung« an.

 

Auch beim Vorrücken auf Falludscha kam es sofort zu brutalen Gewalttaten der schiitischen Milizen und der Nationalpolizei an der Zivilbevölkerung. Allein in Amiriyat Falludscha, einer Ortschaft im Süden Falludschas wurden Human Rights Watch (HRW) zufolge mindestens 1700 Männer gefangengenommen, zum großen Teil misshandelt und gefoltert. Viele wurden getötet oder sind seither verschwunden. Im Nachbarort Saqlawiyah waren kurz zuvor mindestens 49 Männer sofort exekutiert und über 640 Zivilisten verschleppt worden. Auf Videos aus der Gegend sind schiitische Gotteskrieger vor einem Stapel geköpfter Leichen zu sehen und Pritschenwagen, die Männer hinter sich herschleifen.

 

Ungeachtet der aus Sorge vor erneuten Plünderungen und Massakern ergangenen Anweisung der Regierung an die Milizen, vor den Toren zu bleiben, folgten die berüchtigten, vom Iran ausgerüsteten Badr-Brigaden der ins Zentrum vordringenden Armee auf dem Fuße.

 

»Niemand sollte Zweifel daran haben, was geschehen wird, wenn Falludscha ›befreit‹ wird«, warnt der Wissenschaftler Tallha Abdulrazaq vom Strategy & Security Institute der University of Exeter. »Konfessionelle Säuberung ist ein etabliertes Programm im Irak.« Für den Iraker mit gemischter, arabischer, kurdischer und turkmenischer Abstammung, zeigt sich im Schweigen der »internationalen Gemeinschaft« angesichts der Gräueltaten schiitischer Milizen, erneut: »Irakisches Blut ist noch billiger, als das von Syrern und Palästinensern.« (Übersetzung: J. G.)

 

»Der IS geht, neue Unterdrücker kommen«, titelte Spiegel online am 9. Juni und warnte wie viele Experten, dass die Eroberung Falludschas den »Islamischen Staat« nicht entscheidend schwächen, den Konflikt zwischen Sunniten und den das Land dominierenden schiitischen Kräfte aber weiter anheizen wird.

 

Auch Foreign Policy, eine der führenden US-Zeitschriften, warnt davor, dass unabhängig von militärischen Erfolgen, wie in Falludscha, diese Form des Krieges den Islamischen Staat nur stärker mache, der zwar Territorium einbüße aber aufgrund der Übermacht eines Bündnisses, das die USA und den Iran einschließt, weltweit an Attraktivität und Unterstützung gewinne. Wenn die US-Regierung von großen Erfolgen gegen den Daesch spreche, dann unterschätze sie die politischen und sozialen Faktoren, die in erster Linie zu seinem Aufstieg beitrugen. Die irakische Regierung scheine aber zum Beispiel heute mehr noch von sektiererischen Kräften dominiert als in der Zeit, bevor der Daesch im Juni 2014 Mossul einnahm.

 

Dennoch unterstützt der Westen weiterhin deren Krieg, statt sich hinter die starke oppositionelle Bewegung zu stellen, die sich nicht zuletzt gegen dessen sektiererische Ausrichtung richtet, und sich für einen Ausgleich mit der sunnitischen Bevölkerung durch Anerkennung ihrer berechtigten Forderungen einzusetzen. Nur mit ihrer mehrheitlichen Unterstützung, da sind sich die meisten Experten einig, wird der Daesch tatsächlich, wie sein Vorgänger zwischen 2006 und 2008, entscheidend zurückgedrängt werden können. Entsprechende Angebote von sunnitischer Seite liegen seit langem vor. Die Fortsetzung des aktuellen Feldzugs in Richtung der Millionenstadt Mossul hingegen wird die verheerenden Folgen der bisherigen »Befreiungs«-Offensiven noch einmal potenzieren.