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Titel1418

Ein Attentat sondergleichen  (Ralph Hartmann)

Die Weltgeschichte durchzieht eine schier endlose Kette von Attentaten, gelungenen und fehlgeschlagenen. Historiker haben sie untersucht und aufgelistet. Die Übersicht reicht von der Ermordung des Königs von Assyrien, Sanherib, 680 v. Chr. durch – so zumindest nach der biblischen Überlieferung – seine Söhne Adrammelech und Sarezer bis zum Attentat auf den Kremlkritiker Boris Nemzow im Februar 2015. Aus der jüngsten Vergangenheit werden vor allem die Anschläge auf Aldo Moro, Anwar as-Sadat, Indira Gandhi, Olof Palme, Alfred Herrhausen, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble, Detlev Rohwedder und Jitzchak Rabin angeführt. Der Giftanschlag auf den russischen Doppelagenten Skripal taucht in dieser Auflistung bis zum heutigen Tage nicht auf. Fälschlicherweise, denn er ist zwar ohne Zweifel nicht das bedeutendste, aber wohl doch eines der seltsamsten, um nicht zu sagen, der kuriosesten Attentate der Neuzeit. Rufen wir uns einige seiner bemerkenswerten Merkmale in Erinnerung zurück. Das scheint umso angebrachter zu sein, da in der Nähe des Skripal-Tatortes erneut zwei Personen durch Nowitschok, das im Widerspruch zu den Fakten erneut als »russischer Kampfstoff« bezeichnet wird, vergiftet worden sein sollen. Ausgerechnet vor dem Helsinki-Gipfel von Putin und Trump drängt sich der Verdacht auf, dass mit einem erneuten Einsatz des Nervengiftes dem vorangegangenen neues Leben eingehaucht werden soll. Also rekapitulieren wir:

Erstens: Bekanntlich wurden die beiden Skripals am 4. März in das Krankenhaus von Salisbury unter dem Verdacht eingeliefert, dass sie dem Opioid Fentanyl oder auch dem noch stärkeren Carfentanyl ausgesetzt gewesen seien. Einige andere Menschen seien auch davon betroffen. Das berichtete das Clinical Services Journal am 5. März. Fentanyl wird auch als Heroin-Ersatz verwendet. Doch die britischen Ermittler sahen das anders und stellten fest, dass der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet wurden. Für die Regierung ihrer Majestät stand damit fest, dass es von Russen eingesetzt wurde, denn erstmals entwickelt wurde es in Russland, genauer: in der Sowjetrepublik Usbekistan. Es war und ist für London bis heute ein schlagender Beweis für die erwiesene russische Schuld, obwohl einige Kleinigkeiten daran Zweifel weckten. Es stellte sich heraus, dass der Giftkampfstoff in jedem einschlägigen Chemielaboratorium hergestellt werden kann, was auch geschah.

 

Anfang Mai teilte der tschechische Präsident Miloš Zeman mit, dass die Tschechien das Gift hergestellt und getestet hatte, um es anschließend aber wieder zu vernichten. Aber damit nicht genug. Der Bundesnachrichtendienst (BND) gelangt unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu präzisen Informationen über Nowitschok. Der darüber unterrichtete Bundeskanzler Helmut Kohl ordnete an, die Formel mit den engsten Verbündeten der Bonner Republik, darunter die Geheimdienste der USA und Großbritanniens, zu teilen.

 

Zweitens: Wer hatte mehr Interesse, Nowitschok gegen einen russischen Ex-Spion einzusetzen, der russische oder westliche Geheimdienste? Es stellt sich die natürlichste aller Fragen: cui bono? Russland, das kurz vor der Präsidentschaftswahl und der Fußballweltmeisterschaft stand; oder die Scharfmacher in den NATO-Staaten, die bei weitem nicht zum ersten Mal nach Anlässen suchen, um die antirussische Hysterie zu befeuern?

 

Drittens, laut britischen Quellen vollzog sich der heimtückische Anschlag wie folgt: Das tödliche Nowitschok wurde von den geheimnisvollen Attentätern vor allem an der Haustür Skripals eingesetzt – hier jedenfalls fanden die Ermittler die höchste Konzentration des Giftes. Dessen ungeachtet verließen Vater und Tochter unbeschadet das Haus, spazierten zu einem Restaurant, speisten mit gutem Appetit und begaben sich anschließend zu einem Verdauungsspaziergang in einen Park. Erst hier wirkte das Gift, auf einer Bank wurden sie besinnungslos. In diesem Zustand fand sie die Polizei. Seltsamerweise hatte Nowitschok bei den Skripals erst nach mehreren Stunden gewirkt, obwohl das Nervengift nach wenigen Minuten tötet. Ein bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärtes Mirakel. Übrigens: Tödlich endete der Anschlag für das im Haus des Ex-Spions lebende Meerschweinchen – allerdings zeigte eine Obduktion, dass das Tier nicht an einer Vergiftung verstarb, sondern aufgrund einer Dehydrierung das Zeitliche gesegnet hatte.

 

Viertens: Die Skripals haben das Attentat mit dem tödlichen Nowitschok überlebt. Aber weder im Krankenhaus noch danach hat man sie zu Gesicht bekommen. Mit einer Ausnahme: Julia verlas auf einem Video eine Botschaft auf Russisch, dass sie irgendwann nach Russland zurückkehren wolle, die eindeutig aus einem englischen Original zurückübersetzt worden war. Ansonsten werden beide an einem unbekannten »sicheren« Ort von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Warum wohl? Steht zu befürchten, dass Putins Agenten sie ein weiteres Mal angreifen werden? Obwohl beide Skripals russische Staatsbürger sind, wird konsularischen Vertretern Russlands entgegen allen Regeln der Wiener Konvention jeder Kontakt verweigert. Gleiches widerfuhr einer Cousine Julias. Es besteht mittlerweile der Verdacht, dass sie gegen ihren Willen festgehalten werden. Wie dem auch sei, mysteriös ist das Ganze allemal.

 

Fünftens: Abgesehen vom Anschlag auf den österreichischen Thronfolger 1914 hat bisher kein Attentat zu so einer diplomatischen Krise geführt wie der Giftangriff auf dem Ex-Doppelagenten Skripal. Ohne den geringsten Beweis für eine russische Schuld wiesen 26 Staaten auf Drängen Großbritanniens 140 russische Diplomaten aus, worauf Moskau es diesen mit gleicher Münze heimzahlte – ein in den internationalen Beziehungen einmaliger Vorgang. In einer Hetz- und Hasskampagne schossen gleich zwei NATO-Repräsentanten, der britische Außenminister und die deutsche Verteidigungsministerin, den Vogel ab. Mister Johnson zeigte sich überzeugt, dass der russische Präsident Putin höchstselbst den Auftrag zur Tötung Skripals gegeben hätte, und Frau von der Leyen nannte die Vergiftung einen »schweren Schlag gegen die internationale Sicherheit«. Die deutsche Regierung nehme den Vorfall »sehr, sehr ernst«. Es handle sich um einen »schweren Bruch aller internationalen Abkommen«. Mittlerweile aber musste die Bundesregierung eingestehen, dass sie bislang keine Beweise aus London zum Fall Skripal bekommen hat, und auch die deutschen Nachrichtendienste beklagten, keine Erkenntnisse darüber zu haben, dass Russland für den Giftanschlag verantwortlich sein könnte (Bericht des ARD-Hauptstadtstudios vom 7.6.2018.).

 

Dessen ungeachtet wurde in der Abschlusserklärung des G7-Gipfels die Mär von der höchstwahrscheinlichen Verantwortung Russlands für die Skripal-Vergiftung wiederholt und die Solidarität mit London bekräftigt. Angesichts dessen rief der zu diesem Zeitpunkt in China weilende Präsident Putin dazu auf, endlich das »kreative Gelaber« zu beenden. Ach, wenn es doch nur ein törichtes Geschwätz wäre!

 

Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, weiß Trost und Ausweg. Die Briten müssten sich entschuldigen und anerkennen, »dass die ganze Affäre für die Katz war«, sagte Netschajew in einem dpa-Interview. »Sie müssten anerkennen, dass das ein großer Fehler war oder eine große Lüge. Sie müssten das Rad der Geschichte zurückdrehen und sagen: Sorry, liebe Russen, wir haben einen Fehler begangen.« Darauf aber können Netschajew und der abgrundtief böse Putin lange warten.