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Titel152013

Debatte

Der Artikel »Der Presserechtsstaat« von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann in Heft 13/13 und Otto Köhlers Erwiderung auf den Beitrag, erschienen in Ausgabe 14/13 unter dem Titel »Reingelegt«, bescherten der Ossietzky-Redaktion viele Zuschriften. Hier einige Auszüge daraus:

Klaus Nilius: [...] Der Artikel »Presserechtsstaat« macht dem Titel der Publikation, in der er leider erschienen ist, und dem Namensgeber Unehre. [...]

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Ulrich Sander: [...] Die Unschuldsvermutung ist ein juristischer Begriff. Medien haben sich nicht daran zu halten. Oder wollen wir jetzt die Position der NSU-Verteidigung einnehmen, die ja die Einstellung des Verfahrens fordert? [...]
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Wolfgang Sommer: [...] Es kann meines Erachtens den Angehörigen der Opfer nicht zugemutet werden, die dringend tatverdächtigen Angeklagten bis zu dem irgendwann einmal ergehenden endgültigen Gerichtsurteil völlig leidenschaftslos als unschuldig anzusehen. Und auch der Öffentlichkeit, die sich zu einem Großteil in den Medien artikuliert, nicht. [...]
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Arno Klönne: Zur Kritik an dem NSU-Prozeß und an dem Umgang vieler Medien mit ihm besteht meines Erachtens durchaus Grund. Mögliche Tatzusammenhänge, für die es viele Indizien gibt, sind in diesem Verfahren ausgeklammert, und die veröffentliche Meinung wirkt überwiegend dahin, sie aus dem Blick zu lassen. Selbstverständlich haben aber auch wegen Gewalttaten angeklagte Neonazis das Recht auf eine umfassende Ermittlung der Hintergründe und Umstände dessen, was ihnen vorgeworfen wird. Wer die strafrechtliche »Unschuldsvermutung« einfordert, will damit nicht sagen, daß die betreffenden Angeklagten ehrenwerte Zeitgenossen seien; verlangt wird damit lediglich, daß ein Urteil gesprochen wird (auch medial), nachdem eine Tat so vollständig wie nur möglich aufgeklärt ist. Auf rechtsstaatliche Regeln zu dringen bleibt richtig, auch wenn dies im NSU-Fall Publikationen der extremen Rechten ebenfalls tun; eine »Querfront« entsteht dadurch nicht. Wir bleiben ja auch bei unserem Protest gegen die Oberschnüffler in der USA-»Sicherheitsagentur«, obwohl zum Beispiel die Junge Freiheit sich zu deren Tätigkeit kritisch äußert. Übrigens: Der Abdruck eines Beitrags in Ossietzky muß keineswegs bedeuten, daß Redaktion und Herausgeber mit allen sonst wo veröffentlichten Texten der Autoren übereinstimmen.
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Alexander Bahar: [...] Ohne die Unschuldsvermutung hört der Rechtsstaat auf, Rechtsstaat zu sein. Sie gilt gleichermaßen für mutmaßliche Terroristen, Nazis wie Kinderschänder. Auch mir drängt sich mehr und mehr der Eindruck auf, daß die mediale Fokussierung auf Zschäpe & Co. nur von den tatsächlichen geheimdienstlichen Machenschaften ablenken soll. An den »Selbstmord« der beiden Uwes habe ich von Anfang an nicht geglaubt. [...]
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Hartmut Barth-Engelbart: [...] Und niemand fragt mehr:/ sind sie’s wirklich gewesen ?/ und sie nur allein ?/ Welch eine Frage/ in dieser Lage/ geht’s um Sicherheit, um die Staatsraison!// Und die Richter,/ die dann das Urteil fällen/ haben das Urteil in diesen Fällen/ schon vor dem Prozeß/ in der Zeitung gelesen [...]
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Elias Davidsson: [...] Köhler unterstellt den Autoren Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann ein Bestreben zu einer Querfront mit National-Sozialisten. Als einzigen Beleg dafür zitiert der Autor die Tatsache, daß die Autoren in einigen Fällen sich für die Aufklärung des Todes von Personen im rechten Umfeld interessierten (Möllemann, Haider, das sogenannte NSU-Paar ...). [...] Die Aufklärung eines Todesfalles ist kein Beleg für irgendeine Identifizierung des Ermittlers mit der Ideologie des Toten. Wenn ein politischer Gegner unter zweifelhaften Umständen stirbt, so entsteht die Frage des cui bono. Der Frage nachzugehen, unter welchen Umständen ein Barschel, ein Möllemann, ein Haider oder das sogenannte NSU-Paar gestorben sind, kann ein besseres Verständnis für die Ziele unserer politischen Gegner liefern. [...] Fikentscher und Neumann haben am 23.11.2012 exemplarisch gegen vier Medienbeiträge Beschwerde beim Deutschen Presserat eingereicht, weil diese die Unschuldsvermutung gegenüber der sogenannten NSU-Bande verletzt hatten. Die Aufrechthaltung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung ist eine Pflicht jedes Demokraten. [...] Zur Aufhebung beziehungsweise Relativierung der Unschuldsvermutung schreibt Köhler: »Und so darf man auch Hitler keinen Massenmörder nennen – er wurde deswegen nie rechtskräftig verurteilt.« Köhler scheint vergessen zu haben, daß Adolf Hitler der höchste Befehlshaber des Dritten Reiches war und daß er für die komplette Politik seiner Regierung die Verantwortung trug, darunter Angriffskriege und Massenvernichtung. [...] Durch die Bezeichnung von Mohamed Atta, Osama bin Laden und anderer Muslime als Massenmörder, die von keinem Gericht für die Anschläge des 9/11 schuldig gesprochen wurden, was eine grobe Verletzung des Prinzips der Unschuldvermutung darstellt, gelang es unseren Regierungen, massive Eingriffe in unsere Freiheiten und Angriffskriege zu legitimieren. [...]
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Evelyn Hecht-Galinski: Sehr geehrter Herr Köhler, [...] Hier haben Sie – sinnbildlich – anstatt »Degen« mit dem »Beil« gearbeitet. [...] So sollte es doch jedem recherchierenden und nachdenkenden Journalisten erlaubt sein, auch unangenehme und provokante Fragen zu stellen. Ist das deshalb eine »national-sozialistische Querfront«? [...] Es tut mir sehr weh, wenn ich lese wie anständige Menschen, wie Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann von Ihnen persönlich in ein falsches Licht gestellt werden. Ich schätze die beiden sehr, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind und andere Standpunkte vertreten, auch zu denen von Ihnen angesprochenen Themen. [...] Schon Ossietzky sagte sehr richtig: »Wir erleben augenblicklich alle Schwankungen und Widersprüche einer Übergangszeit. Eine Kultur liegt im Sterben, und die Keime einer neuen sind kaum sichtbar.« Lieber Herr Köhler, bitte denken Sie an diese Kultur im Ossietzky und schämen Sie sich nicht für die offene Streit- und Schreibkultur der so wichtigen Auseinandersetzung, mit vielfältigem Journalismus.