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Titel1517

Käthe Kollwitz zum 150. in Russland  (Hartmut Sommerschuh)

8. Juli 2017: Schon der erste Ton geht unter die Haut. Jewgeni Awramenko, viel geehrter Organist des Kaliningrader Doms, spielt »Fantasie und Fuge« in g-Moll von Bach. Drüben, an der anderen Stirnseite des vollen Kirchenschiffes, leuchtet über dem Orchester ein großes Foto der jungen Käthe Kollwitz. Selbstbewusst, fast frech, noch ungebeugt vom späteren Soldatentod ihres jüngsten Sohnes. Aber schon mit dem Blick, den man nicht vergisst.

 

Bach gehörte zu ihrer Lieblingsmusik. Nun erklingt er als Auftakt eines feierlichen Konzertes zu ihrem 150. Geburtstag. Käthe Kollwitz wurde am 8. Juli 1867 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren und verbrachte hier ihre ersten 24 prägenden Lebensjahre. Geladen zum Festkonzert haben der Dom, die Kunstgalerie Kaliningrad und das Deutsche Generalkonsulat zusammen mit dem Käthe-Kollwitz-Museum Berlin. Ein lange vorbereitetes russisch-deutsches Gemeinschaftswerk. So wie die Orgel.

 

Sie sei der schönste Arbeitsplatz in der Stadt, hieß es nach der Einweihung 2008. Das gewaltige, einst von Joshua Mosengel gebaute Instrument mit seinem barocken Prospekt voller Schnitzwerk, Putten, Pauken und Trompeten war berühmt. Doch im August 1944 verglühte es im Bombenhagel eines verheerenden britischen Luftangriffes.

 

Igor Odinzow, der unermüdliche Chef der staatlichen Dombaufirma, hatte mit seinen Träumen nicht lockergelassen. Nach vielen Spenden aus Deutschland für den Wiederaufbau fehlte noch das Geld für die Orgel. Bei einem Treffen zur 750-Jahrfeier der Stadt mit Bundeskanzler Schröder 2005 in Kaliningrad hörte Wladimir Putin davon und versprach Hilfe. Umgerechnet knapp dreieinhalb Millionen Euro ließ die russische Regierung auf das Dombau-Konto überweisen. Den Auftrag bekam die renommierte Brandenburger Firma Alexander Schuke. Heute ist das Prunkstück mit seinen 8800 Pfeifen und 90 Registern die größte Orgel im Ostseeraum. In Russland beispiellos.

 

Der helle Klang der Bachfuge und das große Kollwitz-Foto scheinen wie geschaffen füreinander. Es ist still im Dom geworden und kaum noch ein Platz frei. Über 500 Zuhörer sind gekommen.

 

Mit bewegenden Worten hat eben der Urenkel von Käthe Kollwitz, Jan Kollwitz, an die Königsberger Jahre und die geistigen Quellen seiner Urgroßmutter erinnert. An ihren sozialdemokratischen Vater Carl Schmitt und vor allem an den Großvater Julius Rupp. Der 1846 eine erste freireligiöse Gemeinde in Königsberg gegründet und in vielen Schriften die Ethik des großen Stadtsohnes Immanuel Kant verarbeitet hatte: »Wer nach der Wahrheit, die er bekennt, nicht lebt, ist der gefährlichste Feind der Wahrheit selbst.«

 

Kants Gedanken werden an diesem 8. Juli 2017 zu einer deutsch-russischen Brücke. Zeitgleich zum Kaliningrader Festakt erinnert auf der Geburtstagsfeier im Berliner Kollwitz-Museum Gerfried Horst, Vorsitzender der Freunde Kants und Königsbergs e.V., an das Alterswerk des deutschen Philosophen vom »Ewigen Frieden« zwischen den Staaten. Und wie dies die junge Kollwitz ansteckte.

 

Draußen vor dem Dom leuchten an einem Gedenkstein für Julius Rupp frische Blumen. Eine Geste vor dem Konzert vom deutschen Generalkonsul in Kaliningrad, Michael Banzaf, gemeinsam mit Eberhard Diepgen, dem Vorsitzenden vom Trägerverein des Berliner Kollwitz-Museums, und 30 weiteren Berliner Gästen, die aus Deutschland nach Kaliningrad gekommen sind, ganz bewusst hier den Geburtstag von Käthe Kollwitz zu feiern. Auch Eberhard Diepgen (CDU) als ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin sieht das Kollwitz-Jubiläum vor der gesamtpolitischen Perspektive und möchte ein Zeichen für Verständigung setzen. Er ist das erste Mal in Kaliningrad und will unbedingt wiederkommen.

 

Der Gedenkstein war 1909 zum 100. Geburtstag von Julius Rupp aufgestellt worden. Käthe Kollwitz hatte dafür selbst ein Porträtrelief ihres Großvaters geliefert. Nun, zu ihrem eigenen Jubiläum, konnte es keinen besseren Ort des Gedenkens geben, so Iris Berndt, Leiterin des Berliner Kollwitz-Museums bei der Vorbereitung. Ihrer Hartnäckigkeit ist auch einer von drei Aufstellern zu verdanken, der noch in der Nacht vor dem Geburtstag neben dem Dom einbetoniert wurde. Darauf beschrieben werden in drei Sprachen Königsberger Lebensstationen der Kollwitz. Während Hamburg an diesem 8. Juli auf die Verwüstungen des G20-Gipfels schaut, schmücken hier viele Hochzeitspaare die Parkanlage rings um den Dom: Kaliningrad feiert nicht nur den Kollwitz-Geburtstag, sondern auch sein jährliches Stadtfest, bei dem traditionell viele Ehepaare heiraten.

 

Inzwischen erklingt ein weiteres Lieblingsstück der Kollwitz, Beethovens Schicksalssinfonie. Die Kaliningrader lieben nicht nur ihr Orchester und seinen vielfach preisgekrönten Dirigenten Arkadij Feldmann. Vor allem die Jüngeren sind dabei, die lange verschüttete Geschichte ihrer Stadt zu entdecken.

 

Kaliningrad war nach 1945 nicht im alten Stil wieder aufgebaut worden. Nach der fanatischen Verteidigung durch die Wehrmacht wurden die Deutschen wie überall in Ostpreußen vertrieben. Aus vielen Gebieten der Sowjetunion zogen fremde Menschen herbei, sahen in dem Ruinenfeld die verdiente Niederlage Nazi-Deutschlands und begannen, eine neue Stadt darüber zu bauen. Mit Parkanlagen entlang der Flussarme statt mit rekonstruierten Gassen wie in Gdansk oder Elblag. In den letzten Jahren ist manches historische Gebäude renoviert oder wieder aufgebaut worden, langsamer als beim polnischen Nachbarn zwar, aber sichtbar stetig. Ist diese Stetigkeit jetzt in Gefahr?

 

Angesichts der NATO-Panzer und Russlandschelte ringsum wächst bei Gebietspolitikern das Misstrauen gegenüber Erinnerungsinitiativen aus Deutschland, eine kleine aber lautstarke antideutsche Bewegung artikuliert sich.

 

Vom alten Königsberg sind außer dem Dom geblieben: die Stadttore, einzelne Gebäude wie das Königliche Waisenhaus, in dem Karl Kollwitz, Käthes späterer Mann, aufwuchs. Oder die alte Börse, in der die Kollwitz vor genau 100 Jahren eine Ausstellung hatte. Ihr Geburtshaus steht nicht mehr, wo sie zum ersten Mal Arbeiter beobachtete. Beim mühevollen Ausladen von Schiffen, die voller Ziegelsteine waren für den Bauhof ihres Vaters Carl Schmidt.

 

Zusammen mit der Kunstgalerie Kaliningrad hat das Käthe-Kollwitz-Museum Berlin bereits im April eine verdienstvolle Broschüre herausgebracht, die als »Spurensuche im Kaliningrader Gebiet« frühe Lebensstationen der Kollwitz beschreibt. Das Interesse daran ist ungebrochen, nach dem Konzert wie auch am Tag zuvor während der Präsentation einer Sonderausstellung mit Werken von Käthe Kollwitz.

 

Da sprachen neben Galina Sabolotskaja, der Galerie-Chefin, und Eberhard Diepgen auch Professor Wilfried Bergmann, stellvertretender Vorsitzender vom Deutsch-Russischen Forum sowie der Generalkonsul Michael Banzaf. Beide erinnerten mit Blick auf die heutigen Konflikte des Westens mit Russland an die Friedenssehnsucht und pazifistische Haltung der Kollwitz.

 

Nach einem langen herzlichen Beifall für das Orchester und sein letztes Stück, zwei heitere ungarische Tänze von Brahms, schauen deutsche und russische Gäste noch einmal auf die glanzvolle Orgel im Dom. Auch ihre Erbauer wollten 2008 Friedenssehnsucht ausdrücken: Ganz oben auf dem barocken Prospekt, über den haushohen Pfeifen an der Spitze des Hauptwerkes, reckt ein Phönix sein gekröntes Haupt. Sinnbild für die Wiederauferstehung der Kirche, der Stadt und eines guten Verhältnisses zwischen Deutschen und Russen. Den Vogel gab es früher nicht an dieser Stelle. Einst thronte dort der Reichsadler Preußens.

 

 

Die Vorbereitungen zum 150. Geburtstag von Käthe Kollwitz in Berlin waren seit Februar 2017 überschattet von einer Standortdiskussion. Das Museum in der Fasanenstraße 24 unweit des Kurfürstendamms ist Mieter bei dem vermögenden Bernd Schultz (75), ehemals Auktionshaus Villa Grisebach. Der möchte ab 2019 in dem Haus ein Museum zur Geschichte der Charlottenburger, die während der Nazizeit Exil in Amerika suchten, einrichten. Das 30-jährige Kollwitz-Museum soll also von einem anderen Museum verdrängt werden, eine unselige Debatte, die für das Museum plötzlich auch noch intensive Standortsuche in ganz Berlin und Wirbel auf allen Ebenen brachte. Museumsleiterin Iris Berndt hat bis zum Kollwitz-Jubiläum durchgehalten und alle Pläne den Widrigkeiten zum Trotz umgesetzt (bis 15. Oktober läuft noch die Geburtstagsausstellung »Käthe Kollwitz und ihre Freunde«), jetzt verlässt sie das Museum. Noch immer ist sie fassungslos, was hier Käthe Kollwitz angetan wird. Wie immer die Sache ausgeht, denn bis Ende Oktober 2017 muss der Eigentümer nun seine beharrlich angedrohte Kündigung vollziehen: »Ich kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, nachdem ich einvernehmlich mit ebendiesem Eigentümer den Standort Fasanenstraße für Käthe Kollwitz drei Jahre reformiert habe, mit vielen Spenden, Helfern, Drittmitteln, Ehrenamt, Schweiß und Idealismus«, so Iris Berndt. Käthe Kollwitz, die große künstlerische und moralische Instanz in Fragen von Krieg und Frieden, in Berlin droht sie Spielball egoistischer Interessen zu werden. Die große Empörung in Politik und Gesellschaft blieb aus, warum? Weil es so viele Museen in Berlin gibt? Brauchen wir Käthe Kollwitz nicht gerade heute wieder mehr denn je?