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Titel162013

Und dennoch reisen sie  (Daniel Josten)

Im Mai 2013 einigten sich EU-Staaten, -Kommission und -Parlament, die Regelungen zur Reisefreiheit im Schengen-Raum zu verschärfen. 2014 soll es den beteiligten Staaten wieder leichter möglich sein, an ihren Grenzen Pässe zu kontrollieren. Zur Begründung müssen sie dann nur angeben, daß sie sich von einer Massenankunft von Flüchtlingen bedroht sehen. Die Verschärfung geht hauptsächlich auf das Betreiben der Bundesregierung zurück. Zum wiederholten Male drängte diese zu Restriktionen. Erst im März 2013 hatte sie ihren Einfluß ausgespielt, um den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Schengen-Zone zu verhindern. Diese Länder seien für offene Grenzen noch zu unreif, hieß es. Daß Regierungen der BRD ihre Macht nutzen, um auf eine strenge Grenz- und Flüchtlingspolitik in internationalem Rahmen zu drängen, kann als traditionell bezeichnet werden.

Im nationalstaatlichen Rahmen müssen Migranten mit der Tatsache klarkommen, daß anstelle von Anerkennung Ausschlußprinzipien vorherrschen. So können aufgestöberte Unterschiede für Diskriminierungen herhalten, wenn sie zur Erlangung eines Vorteils nützlich erscheinen. Dennoch verläuft der Alltag größtenteils unproblematisch. Kompetenzen im Umgang mit der mit Mobilität einhergehenden gesellschaftlichen Vielfalt sind also durchaus vorhanden; die formalen Gesellschaftsstrukturen werden dieser Entwicklung jedoch nicht gerecht. Daß es der nationalstaatlich organisierten Gesellschaft nicht gelingt, der Vielfalt Rechnung zu tragen, läßt sich leicht erkennen: Die Bemühungen migrantischer Selbstorganisationen stehen symptomatisch für Demokratie-Defizite. In migrantischen Strukturen werden Umgangsweisen mit dem gesellschaftlichen Kategorisierungsbetrieb entwickelt. Sie verweisen auf Versäumnisse bezüglich der Erlangung von Gleichberechtigung. Grundsätzlich nötig sei dazu nämlich das »Aufgeben der gewohnten Teilung der Einwohner ... in die ›Unseren‹ und ›Fremden‹« (Ioffe/Phoenix Köln e. V., zit. n. Daniel Josten: »Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen«, 2012). Man müsse »die Grenzen, also diese ethnischen, kulturellen, religiösen Grenzen überwinden« (Frau A, Föderation demokratischer Arbeitervereine e. V., zit. n. ebd.). Der Umgang mit Vielfalt krankt an der gesellschaftlichen Herstellung von Minoritäten, wodurch in der Bevölkerung nationalisierende und ethnisierende Denkmuster untermauert werden. Ein Staatsvolk wird quasi erschaffen, indem Menschen »als institutionelle Praxis und als Vorstellung … den modernen homo nationalis konstruieren«, schreibt Etienne Balibar in »Die Grenzen der Demokratie«. Aufgrund gesetzlicher Regelungen werden also Minderheiten hervorgebracht; und weil der Staat für die Gesetze steht, hat dies laut Balibar einen gewissen Rassismus als »staatliche Psychostruktur« zur Folge.

Gleichzeitig gewinnt die transnationale Erfahrung von MigrantInnen an Bedeutung. Die Orientierung erfolgt zunehmend an globalen Zusammenhängen. Diese Entwicklung steht in Kontrast zu dem Beharren von Nationalstaaten, Mobilität regulieren zu wollen, gehen die Prozesse, die Globalisierung genannt werden, doch in vielerlei Hinsicht mit einem Bedeutungsverlust der Nationalstaaten einher. Allerdings ist nach Balibar die heutige »Krise der Nation-Form« nicht durch das Verschwinden von Staatsgebilden gekennzeichnet, sondern stellt eher eine »Hegemonie-Krise« dar. Armin Nassehi spricht auch von einer »Krise der ethnographischen Repräsentation«. Der Alltag im Globalisierungszeitalter widerspricht Vorstellungen von nationalstaatlich abgrenzbaren Gesellschaften. Statt in Kategorien von Aufbruch und Ankunft zu denken, schlägt Ludger Pries vor, »transnationale Räume« anzunehmen. Die aktuelle Entwicklung der Migration verweist auf eine globale Gesellschaft, deren Mitglieder nicht von einer geschlossenen, national definierten Gesellschaft in eine andere wechseln, in die sie integriert werden müßten. Transnationale Praxis und Erfahrungen weisen über den nationalen Denkhorizont hinaus und beeinflussen das Bild von Mobilität. Auch wenn dies nicht politisch zielgerichtet oder koordiniert geschieht und nicht überschätzt werden sollte, so steht doch der Beharrlichkeit, mit der Grenzen aufrecht erhalten werden, ein zunehmend transnationaler, vielfältiger Erfahrungsschatz gegenüber.

Das wachsende Bewußtsein über die weltweite Verquickung der Probleme verlangt die Überwindung nationalen Denkens und verweist auf eine zunehmende Nachfrage nach demokratischer Beteiligung. Politische Unabhängigkeit von Nationalstaaten nimmt ab, grenzüberschreitende politische Betätigung jedoch zu. Im Rahmen seiner Geltung und Kompetenz vermag der Nationalstaat die Probleme nicht adäquat anzugehen. Denn globale Problemlagen erfordern global ausgehandelte Lösungsansätze. Bisweilen dominiert aber die Propagierung der Stabilität von Außengrenzen. Sie dient vor allem der Sinnstiftung in Bezug auf den Nationalstaatsgedanken. Die Migrationspolitik der Wirtschaftsnationen bleibt damit alten Konzepten verhaftet. Entsprechend sah zum Beispiel die Reaktion der Europäischen Union 2011 angesichts zehntausender Flüchtlinge aus Nordafrika aus: Es wurden unter anderem schärfere Grenzkontrollen, strengere Einreisebedingungen und eine vereinfachte Aussetzung der Schengen-Standards gefordert. Das kommt uns bekannt vor. Bisher findet die Globalisierung der Migrationsregime also unter Kontrollvorzeichen statt. Sie wird jedoch weiterhin durch dennoch stattfindende Wanderungen konterkariert. Das erfordert einen anderen Blickwinkel, wie ihn Miltiadis Oulios in literatur konkret, Ausgabe 36, vorschlägt: »nicht bei der moralischen Entrüstung über die Opfer der Ausländerpolitik stehenbleiben ... den Kosmopolitismus der Ausgestoßenen zur Sprache bringen«.