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Titel1617

Qualitätsjournalismus und Pferdehandel  (Volker Bräutigam)

Claudia von Salzen schrieb im Tagesspiegel über eine Äußerung des russischen Außenministers Lawrow (»In der Ukraine-Krise wurden Grundsätze des Völkerrechts aufs Gröbste verletzt«): »[Er] meint damit weder die international als völkerrechtswidrig betrachtete Annexion der Halbinsel Krim ...« Den Rest des Satzes denken und schenken wir uns. Die Autorin hielt die Formulierung vermutlich für einen Nachweis notwendiger Distanziertheit. Tatsächlich aber lenkte sie die Aufmerksamkeit auf eine Misere namens »Qualitätsjournalismus«: auf das Elend dürftiger Sachkenntnis, mangelnder Recherche, fehlender Nachdenklichkeit, der Nachbeterei und sprachlicher Inkompetenz.

 

»Annexion« bedeutet »gewaltsame Aneignung« (eines Gebietes) und ist gemäß UN-Charta, Art. 2, Abs. 4, unzulässig. Das Sprachgewölle »international als völkerrechtswidrig betrachtete Annexion« gleicht qualitativ der Wortfolge »vom Pferdehandel als weiß betrachtete Schimmel«. Die Formulierung »international betrachtet« entstammt derselben Agitprop-Schublade wie die Floskel »internationale Gemeinschaft«, gleichermaßen beliebt bei Politikern und Qualitätsjournalisten. Die Assoziation mit dem »Pferdehandel« aber kommt nicht von ungefähr.

 

Politik und Qualitätsjournalismus betreiben die Rosstäuscherei im größeren Stil, gern unter Bezug auf die »internationale Gemeinschaft«. Sie sprechen/schreiben zwar jeweils bloß über eine multinationale Gruppierung, nämlich die transatlantische »Westliche Werte-Gemeinschaft« (WWG) unter Führung der USA. Aber sie tun mit ihrer Wortwahl so, als sei das die ganze Welt. Ein Propagandatrick, denn besagter multinationaler Koalition gehört kaum ein Fünftel der Menschheit an, allenfalls.

 

Immerhin ist die Propagandahetze wirksam, gerade auch im Hinblick auf die Darstellung der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation. Ein Vorgang, den die Qualitätsjournalistin von Salzen im Tagesspiegel zum Anlass nahm, sich über den russischen Außenminister zu mokieren. Aber die rechtskräftige Feststellung, »Russland hat die Krim annektiert«, gibt es bekanntlich nicht. Es existiert nicht einmal eine allgemein anerkannte, einheitliche juristische Diktion in diesem Sinne. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag wurde mit der Causa »Krim zu Russland« nicht befasst. Zitierfähig ist nur ein politisches Diktum (und das ist schließlich etwas ganz anderes), nämlich die Resolution A/RES/68/262 der UN-Generalversammlung vom 27. März 2014. Die ist jedoch nicht justiziabel.

 

Auf Rechtsgutachten und ein Urteil des IGH in Den Haag darüber, ob der Anschluss der Krim an Russland »gewaltsam oder durch Androhung von Gewalt« erfolgte und damit völkerrechtswidrig war, verzichteten wohlweislich nicht nur die WWG und die erlauchte Versammlung von Interessenvertretern in der UN-Generalversammlung, sondern sogar die Ukraine. An objektiver Faktenermittlung der Krim-Affäre unter Berücksichtigung aller Umstände und der Vorgeschichte ist, was Wunder, die WWG nicht wirklich interessiert.

 

Gründe im vorliegenden Fall: Zahlreiche Länder, auch solche der WWG, laborieren an substanzgefährdenden Sezessionsbestrebungen. Man schaue nach Spanien (Basken, Katalanen), Frankreich (Bretonen, Korsen), Großbritannien (Nordiren, Schotten), Italien (Lombarden), Türkei (Kurden). Auch Nicht-WWG-Staaten haben damit Probleme, beispielsweise die VR China (Uiguren, Tibeter, Taiwaner) oder Indien (Assamer, Nagaländer, Mizos, Tripurer, Manipurer und so weiter). Naturgemäß betrachten die Regierungen solcher Länder die Sezession der Krim mit anderen Augen, als es die »stabilen« Staaten tun.

 

Jedoch eignet sich das anklagende »Annexion der Krim« zum Kolorieren des neu-alten Feindbilds Russland. Die Zahl jener Qualitätsjournalisten, die dieses ebenso dumme wie gefährliche Spielchen mitmachen, ist Legion. Die WWG braucht dieses Hasskonstrukt, damit die Bürger ihres Machtbereichs nicht auf die Idee kommen, Frieden nach innen und nach außen sowie Gerechtigkeit einzufordern, wie 1991 in der »Charta von Paris« versprochen: Vereinigung der beiden deutschen Staaten – dank der Zustimmung und letztlich kräftigen Mithilfe der Sowjetunion! –, Ende der Ost-West-Konfrontation, Frieden in Europa; KSZE-Schlussakte, unterzeichnet von 32 europäischen Regierungen sowie den USA und Kanada.

 

Aus der in der Charta proklamierten Völkerverständigung scherte die WWG einfach aus und richtet sich feindselig gegen Moskau. Die NATO-Staaten sollen mindestens zwei Prozent ihres Brutto-Sozialprodukts für Militär und Rüstung ausgeben, verlangt Washington. Solcher Aberwitz erfordert eine Akzeptanzstrategie, damit das Volk ihn hinnimmt, und dem allein dient die Dämonisierung Russlands.

 

Was die WWG-typische Propaganda-Schablone »Annexion der Krim« anbetrifft, qualitätsjournalistisch hochgejubelt zur »international als völkerrechtswidrig betrachteten Annexion«, so hat Reinhard Merkel, Emeritus der Universität Hamburg, in einem FAZ-Beitrag schon am 7. April 2014 überzeugend nachgewiesen, wie unhaltbar sie ist. Unter dem Titel »Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte« schrieb er: »Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein. [...]«

 

Nun kann man zwar von derzeitigen Qualitätsjournalisten nicht verlangen, dass sie gescheite Abhandlungen über die Krim gelesen haben. Aber über die Vielschichtigkeit der Problematik wenigstens halbwegs Bescheid wissen sollten sie denn doch. Dazu gehört auch die Kenntnis der formalen Umstände, unter denen die erwähnte UN-Resolution (Titel: »Territoriale Integrität der Ukraine«) verabschiedet wurde:

Antragsteller waren seinerzeit fünf WWG-Staaten – Kanada, Costa Rica, Deutschland, Litauen, Polen – und die Ukraine. Ihr Ziel war, das Krim-Referendum vom 16. März 2014 annullieren zu lassen. Jene Abstimmung hatte mit 95,5 Prozent der abgegebenen Stimmen eine überwältigende Mehrheit für das Gesuch an Moskau erbracht, die autonome Region Krim in die russische Föderation aufzunehmen. Doch was scherte der Wille der Krim-Bevölkerung schon die USA-Heloten?

 

Die anfangs genannte UN-Resolution A/RES/68/262 wurde von 100 Mitgliedsstaaten unterstützt, von 93 hingegen nicht: Elf Länder stimmten dagegen: Armenien, Belarus, Kuba, Nordkorea, Nicaragua, Russland, Sudan, Syrien, Simbabwe, Venezuela, allesamt entschiedene Gegner der US-Hegemonialpolitik. Es gab 58 Enthaltungen, und weitere 24 Staaten nahmen an der Abstimmung gar nicht erst teil.

 

Ein Qualitätsjournalist muss das alles anscheinend nicht wissen, geschweige denn recherchieren. Und sein »Handwerkszeug« muss er wohl auch nicht mehr beherrschen, die Sprache, den Schlüssel zum kritischen Denken.