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Titel1709

Die Schildkröte läuft falsch  (Monika Köhler)

»… zum Dritten«. Die Stimme der Gräfin von Rantzau von Christies ist lauter geworden, das erste Objekt hat für 500 Euro einen neuen Besitzer gefunden. Eine grüne Trainingshose, schon zweihundertmal gewaschen – was sie adelt – war »im Kult«, wie es bei Kunstobjekten heißt.

Wir sitzen im Börsensaal der Handelskammer Hamburg. Was wird versteigert? »No money, no love«, die Performance des Tänzers Jochen Roller, die 147. Aufführung. Die letzte. Zu welchen Nebenjobs muß ein Künstler bereit sein, um zu überleben? Bis ins Kleinste listet er auf: 24-Stunden-Jobs – Schlafen als Nachtwächter inbegriffen. Virtuos, wie er im teuren Billigshop H & M imaginäre T-Shirts faltet. Der Erlös der Versteigerung soll einem jungen Künstler zugute kommen. Ein kleiner knallroter Koffer mit »Hallo Kitty«-Aufschrift aus Taiwan bringt die Höchstsumme von 900 Euro. Doch die Hamburger Gesellschaft scheut sich vor zu viel Nähe. Ein ganzer Tag zusammen mit Roller, inbegriffen die Reise nach Berlin mit dem ICE für zwei Personen, Besuch von Szene-Lokalen in Wedding, ein Essen, Besuch einer Probe, abends Theater und weitere Lokalbesuche – das alles zusammen bringt nur schäbige 600 Euro.

Berührungsängste? Mit deutschem Militär wohl nicht. Da liegen Einladungen herum: »Bundeswehr trifft Hamburger Wirtschaft« am 7. September in der Handelskammer um 18 Uhr.

Die Kunstversteigerung in der Handelskammer ist Teil der Eröffnung des diesjährigen Sommerfestivals auf Kampnagel. Thema: Kaufen und Konsum. Präsentiert werden Absonderlichkeiten wie der »Reverend Billy« mit dem »Choir of Life After Shopping« unter dem Stichwort: »Theater und Exorzismus«. Pinkfarbene Beichtstühle laden ein, dem Reverend alle Konsumsünden zu gestehen. Glaubwürdig heißt es, er sei der Spitzenkandidat der Grünen für die Stadtwahlen in New York im November. Seit mehr als zehn Jahren predigt er gegen den Kapitalismus und warnt die Kinder vor Micky-Mouse als Antichrist.

Auf dem Kampnagel-Gelände werden Autos in Fahrräder umgewandelt. Eine Performance, die aus dem Abwracken Kunst macht. Duftendes Holz bedeckt in Form von Rindenmulch den Boden des Außenbereiches. Innen eine Installation: zwei ineinander verkeilte US-Straßenkreuzer, ganz aus Holzteilen roh zusammengezimmert, als Crash auch nicht ungefährlich. Ein Sinnbild der Krise?

Das Eröffnungsstück »Hell«, frei nach Dantes Göttlicher Komödie, konzipiert von dem Choreografen Emio Greco aus Italien und dem Dramaturgen Pieter C. Scholten aus Holland. Beim Betreten der Halle fühlt man sich schon in der Vorhölle: Überlaut dröhnt die Musik, die Bässe vibrieren im Bauch. Dann Angriffe mit dem Scheinwerferlicht auf die Zuschauer. Lämpchen weisen den Eingang zum Höllentor. Links ein dürrer Baum – ist das der »Wald der Sünde«, den Dante durchirrt? Drei Tänzerinnen, drei Tänzer und der Teufel in Schwarz, mit schwarzer Perücke, auch mal mit Fell. Er bemüht sich, die kleine Blonde im sittsamen Faltenrock, aber mit deutlichen Brustwarzen, zu verführen. Alle haben einen verzweifelten Gesichtsausdruck und versuchen, sich irgendwo herauszuziehen. Einzelne Tänzer rauchen. Der Teufel macht es vor, verschwindet im Rauch. Die Musik wechselt vom Inferno zu leisem Brummen. Glockenläuten, dann überfallartiger Krach. Die Lichtkreise kann der Teufel nicht betreten. Plötzlich Karnevalsmusik und »SA marschiert«. Gretchen, die Blonde, steht zitternd da. Dann alle nackt und dazu Beethovens fünfte Sinfonie, übermächtig. Drei dünne Pimmel schlenkern dazu, und die Füße in Ballettschuhen verrenken sich. Der Teufel fällt zu Boden. Aber der Beifall kommt zu früh. Schluß ist noch nicht. Erst nach 100 Minuten dürfen die exzellenten, aber überforderten Tänzer aufatmen und befreit lächeln. Die Hölle ist überstanden.

Am zweiten Abend Gäste aus Buenos Aires: Lola Arias mit der europäischen Erstaufführung ihres Stücks »Mi Vida después« (Mein Leben danach) – nach der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 das Land beherrschte. Den sechs Schauspielern gelingt etwas Seltenes: Man glaubt, sie stellten ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern dar, stellvertretend für die Geschichte Argentiniens.

Aus dem Dunkel fallen Kleider von oben herab auf die Bühne, immer mehr, bis Berge am Boden liegen. Menschen? Das »danach« aus dem Titel läßt an Opfer denken, Menschen, die aus Militärflugzeugen ins Meer geworfen wurden. Eine junge Frau schält sich aus dem Stoffhaufen, zieht Jeans hervor, schlüpft in die Kleider der Verschwundenen. Andere kommen, wühlen in den Kleidern und spüren dem Leben ihrer Eltern und Großeltern nach. Ein Fotoalbum der Kindheit zeigt: Alle waren Polizisten. Der Vater eines anderen war Priester. »Er, der nie jung war«, wurde im Priesterseminar St. Benedikt gedrillt. Durfte keine Zeitungen lesen, nur die Botschaft des Herrn. »Ab sofort Todesstrafe bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung« mußte eine Mutter mit lächelndem Gesicht als Nachrichtensprecherin verkünden. Ihre Tochter spielt es nach. Träume, Phantasien über ein Treffen mit den Eltern, die »so jung sind wie wir« – das Lied zur Gitarre klingt hart und traurig. Die vielen Versionen vom Tod des Vaters. Ein Vater als Geheimagent. Dann zieht sich einer die alten Stiefel an und tanzt wie beim Flamenco, immer stampfender, militärisch, alles niedertrampelnd. Prozeßakten werden verlesen. Ein kleiner Junge kommt auf die Bühne, soll Tonbandtasten drücken, seine eigene Stimme hören und die des zärtlichen Vaters, der ermordet wurde. Kinder von Exekutierten, die illegal adoptiert wurden. Die Verunsicherung, ob der Bruder wirklich der Bruder ist. Die Frau trommelt ihre Wut ins Schlagzeug, wird langsamer, leiser, die Töne hinken. Eine Schildkröte, sechzig Jahre alt, kriecht über die Bühne. Sie soll weissagen, ob es in Argentinien eine Revolution geben wird. Aber das Tier geht immer in die falsche Richtung, so oft es auch wieder auf die Ausgangsposition gesetzt wird, es strebt nach rechts. Alle schlagen sich mit den Kleidern, fallen erschöpft um. Das Kind läuft mit einer Spielzeugpistole herum, richtet sie auf die am Boden Liegenden. Die malen aus, wie sie sich ihren Tod vorstellen, ganz normal oder gewaltsam. Kleider werden auf Stühle drapiert, scheinen die Zuschauer anzusehen. Der Beifall zeigt: Diese Vermischung von Fiktion und Realität überzeugt wie auch das phantasievolle Spiel.