erstellt mit easyCMS
Titel1714

Häßlers Vermächtnis  (Eckart Spoo)

Einer der gelungensten Versuche, über die Nazi-Vergangenheit aufzuklären, war die von Jan Philipp Reemtsma finanzierte, von Hannes Heer realisierte Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht. Seit einigen Jahren ist sie nirgendwo mehr zu sehen. An Aktualität hat sie nicht verloren, im Gegenteil. Sie müßte – nein, sie muß einen festen Platz erhalten, am besten in Berlin oder Potsdam, wo sich der deutsche Militarismus formierte, wo er mit dem Hitler-Faschismus fusionierte, wo die Verbrechen ersonnen und befohlen wurden.

Aber auch der Beitrag der deutschen Justiz zu den faschistischen Verbrechen müßte – nein, muß gezeigt werden, desgleichen die Mitwirkung der Polizei, der staatlichen Verwaltungsbehörden, der Erziehungs- und Wissenschaftsinstitute, der Medien, der Ärzteschaft, nicht zuletzt der Industrie und der Banken. Bald 70 Jahre nach der militärischen Zerschlagung des NS-Staates ist es an der Zeit, die Dokumente zusammenzutragen, die künftigen Generationen helfen können, Antworten auf die niemals verjährende Frage zu finden: Wie konnte es dazu kommen? Wie wurden Millionen Deutsche befähigt, an grausamsten Verbrechen mitzuwirken?

Als 1989/90 die Parole »Wir sind das Volk« in »Wir sind ein Volk« verkehrt wurde und am Rande der Leipziger Demonstrationen der Sprechchor zu hören war »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, da war es die DDR-Oppositionelle Bärbel Bohley, die, beeindruckt von den Holocaust-Museen in Washington und New York, vorschlug, ein solches Museum vordringlich im Lande der Täter zu errichten: in Deutschland. Sofort griff Hans Jürgen Häßler, Abteilungsleiter im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover, diesen Gedanken auf und verfaßte einen Aufruf, der innerhalb weniger Tage ein ermutigendes Echo fand.

Häßler wandte sich brieflich an Künstler, Wissenschaftler, Politiker verschiedener Parteien, vor allem an die Regierungen des Bundes und der Länder. Er erinnerte an den Schwur von Buchenwald »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus«. Er sprach von der Verpflichtung gegenüber den Opfern des Holocaust, den Juden, den Sinti und Roma, den politisch Verfolgten, den Homosexuellen, den Euthanasie-Opfern und vielen anderen. Und er mahnte: Gegen den wieder-erstarkenden Rechtsradikalismus müsse ein Zeichen gesetzt werden.

Als Mitunterzeichner des Aufrufs meldeten sich unter anderen: Franz Alt, Horst Antes, Kurt Bachmann, Klaus Bade, Rudolf Bahro, Jurek Becker, Günther Beelitz, Senta Berger, Alfred Biolek, Karlheinz Böhm, Klaus Maria Brandauer, Volker Braun, Artur Brauner, Micha Brumlik, Vicco von Bülow, Aenne Burda, Emil Carlebach, Peter Conradi, Franz Josef Degenhardt, Jutta Ditfurth, Doris Dörrie, Heinrich von Einsiedel, Ursula Engelen-Kefer, Björn Engholm, Erhard Eppler, Iring Fetscher, Dietrich Fischer-Dieskau, Jürgen Flimm, Günter Gaus, Wolfgang Gehrcke, Hans-Wilhelm Geißendörfer, Meinhard von Gerkan, Peter Gingold, Uschi Glas, Regina Görner, Ulrich Gottstein, Max von der Grün, Gregor Gysi, Gerald Häfner, Kurt van Haaren, Peter Härtling, Dieter Thomas Heck, Detlef Hensche, Stefan Heym, Dieter Hildebrandt, Alfred Hrdlicka, Maria Jepsen, Margot Käßmann, Beate Klarsfeld, Schmuel Krakowski, Oskar Lafontaine, Vera Lengsfeld, Daniel Libeskind, Margret Mönig-Raane, Armin Mueller-Stahl, Andrea Nahles, Oskar Negt, John Neumeier, Bahman Nirumand, Cem Özdemir, Marcel Reich-Ranicki, Peter Rühmkorf, Herbert Schmalstieg, Friedrich Schorlemmer, Gustav-Adolf Schur, Irmgard Schwaetzer, Johannes Mario Simmel, Dorothee Sölle, Lothar Späth, Rita Süssmuth, Klaus Staeck, Peter Steinbach, Wolfgang Thierse, Friedrich Karl Waechter, Günter Wallraff, Klaus Wedemeier, Hubert Weinzierl, Wim Wenders, Simon Wiesenthal, Christa Wolf, Gerhard Zwerenz. Ich habe aus den langen Listen der Unterzeichner diese Namen ausgewählt, um die ungewöhnliche Breite der Initiative sichtbar zu machen. Die Oberbürgermeister fast aller deutschen Großstädte schlossen sich an. Die Direktoren von mehr als hundert Museen ebenfalls. An drei Wochenenden trafen sich in Hannover und in Dresden Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, um an einem Ausstellungskonzept mitzuarbeiten. Namhafte Architekten wollten mitplanen. Ein südwestdeutscher Unternehmer leistete finanzielle Starthilfe.

Konkurrenz?
Ablehnung kam nur von wenigen, namentlich vom niedersächsischen Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder und von den Leitern einiger KZ-Gedenkstätten, die Konkurrenz witterten. Häßler bemühte sich um sie. Er würdigte die von ihnen schon geleistete Forschungs- und Dokumentationsarbeit, die zu den Grundlagen des Projekts gehöre, und bat sie dringend um Kooperation. An den authentischen Orten der Nazi-Verbrechen und des Widerstands müsse gezeigt und erklärt werden, was dort geschehen war, jede dieser Gedenkstätten wäre aber überfordert, wenn sie die ganze Geschichte einschließlich Vor- und Nachgeschichte darstellen sollte. Das müsse Aufgabe eines zentralen Museums sein. Eine weitere große Aufgabe sei die Erinnerung an die außerhalb Deutschlands begangenen Verbrechen, in ganz Europa und noch darüber hinaus. Und dann stelle sich erst recht die Aufgabe, den Ursachen nachzugehen, die gesellschaftlichen Strukturen und historischen Zusammenhänge zu erforschen, nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern auch die Täter und Nutznießer in den Blick zu nehmen. Häßler rühmte die Dauerausstellung im Berliner Bendlerblock über den deutschen Widerstand, aber das Museum müsse auch über den Widerstand in anderen Ländern informieren.

Häßler suchte einen geeigneten Ort. In Berlin war die Ablehnung am stärksten, weil dort zunächst das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und, wenige Minuten zu Fuß davon entfernt, auf dem Gelände der zerstörten Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die »Topographie des Terrors« entstehen sollten. Die Stadt Leipzig äußerte Interesse und bot einen Teil des alten Messegeländes an; aber nachdem der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt ebenso wie sein Vorgänger Kurt Biedenkopf seine Unterstützung zugesichert hatte, machte sein Nachfolger Stanislaw Tillich einen Rückzieher. In Weimar, in Sichtweite der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, stand auf dem »Gau-Forum«, das der thüringische NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel hatte anlegen lassen, die nur im Rohbau fertiggestellte »Große Halle des Volkes«, bestens geeignet, zum Museum ausgebaut zu werden. Die dortigen Pläne zerschlugen sich, als ein Investor kam, um daraus ein Einkaufszentrum zu machen.

Nachdem Schröder Kanzler geworden war, schrumpfte Häßlers Hoffnung, daß sich die Bundesregierung des Projekts annehmen werde. Zugleich wurde ihm klar, daß seine Tatkraft nicht ausreichte, seine Ideen zu verwirklichen. Erfahrungen mit etlichen Politikern ließen ihn an ihrer Verläßlichkeit zweifeln. Deshalb gründete er eine Stiftung mit dem Ziel, das Museum auf privatrechtlicher Grundlage zu errichten. Für das Kuratorium der Stiftung gewann er unter anderen Ludwig Baumann, Volker Beck, Herta Däubler-Gmelin, Günter Grass, Walter Hirche, Bernd Kauffmann, Hans Küng, Petra Pau, Horst Eberhard Richter und Wolfgang Wippermann. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und andere Institutionen sicherten ihm Unterstützung zu.

An warmen Worten fehlte es nicht. Auch ein zeitweiliger SPD-Generalsekretär wünschte »allen erdenkbaren Erfolg«. Aber dabei blieb es dann meistens. Andere Initiativen schienen größere Chancen zu haben, zum Beispiel Erika Steinbachs »Zentrum gegen Vertreibung« und die Stiftung Potsdamer Garnisonkirche, der es mit ihren Schirmherren Wolfgang Huber, Matthias Platzeck und Jörg Schönbohm gelingen könnte, die geschätzten hundert Millionen Euro für den Wiederaufbau dieses im Krieg zerstörten, in der DDR abgerissenen Symbols des deutschen Militarismus zu sammeln, vor allem wenn als Stifterin die aus Steuermitteln des Bundes finanzierte Militärseelsorge dazu beiträgt.

Jetzt entsteht in der Mitte Berlins ein Nachbau des von den Hohenzollern nie fertiggestellten, im Krieg ebenfalls zerbombten, später abgerissenen Stadtschlosses – auf dessen Gelände fünfzehn Jahre lang der DDR-»Palast der Republik« gestanden und sich als Parlamentsgebäude und vielfrequentiertes Kulturzentrum bewährt hat. Was in dem neuen Gebäude geschehen soll – bis dort, wer weiß, wieder ein Kaiser residiert – ist noch unklar. Bei der Entscheidung über den Nachbau blieb offen, welche Funktion das Als-ob-Schloß haben soll und ob die Form mit der Funktion zusammenpaßt.

Der britische Architekt David Chipperfield, viel gerühmt wegen seines Beitrags zur Neugestaltung der benachbarten Museumsinsel, sagte schon vor zwei Jahren in der Zeit: »Ein Schloß, das aussieht wie ein Schloß, bringt uns wohl kaum das Schloß zurück, oder? Ich bin wirklich verwirrt und weiß nicht recht, wofür dieses Gebäude eigentlich steht.«

Der Humboldt-Universität und der Landesbibliothek werden Hoffnungen gemacht, daß jede von ihnen einen Teil der Räume bekommen werde. Es geistert der Name »Humboldt-Forum« herum. Dabei scheint man vor allem an den Weltreisenden Alexander von Humboldt zu denken, auf den man sich berufen könnte, um den Besuchern stolz ein Deutschland zu präsentieren, das die Welt nicht imperialistisch zertrampelt, sondern literarisch, wissenschaftlich erkundet.

Mein Vorschlag
Allen, die ihre Unterschrift zur Unterstützung des Deutschen Holocaust-Museums geleistet haben, schlage ich hiermit vor, sich bei Bund und Ländern, vor allem beim Land Berlin, dafür einzusetzen, daß der im Bau befindliche Schloß-Nachbau für das Holocaust-Museum genutzt wird. Der Platz ist dafür genau der richtige. Das Gebäude ist groß genug. Die Geschichte des preußisch-deutschen Militarismus kann sich mit der des Gebäudes verbinden. Ich sehe überhaupt keine bessere Lösung als diese, die jetzt gleichsam vor der Tür liegt.

Hans-Jürgen Häßler kann dafür nicht mehr kämpfen, er lebt nicht mehr. In seinem letzten Brief an das Kuratorium schrieb er, es gebe keine nennenswerten Fortschritte. Nach seinem Empfinden drehe sich alles im Kreis.

Vorausgegangen war dies: In einer Zusammenkunft bei der Kuratoriumsvorsitzenden Däubler-Gmelin hatte sich die Abgeordnete Edelgard Bulmahn (SPD), inzwischen Vizepräsidentin des Bundestags, bereit erklärt, eine Unterstützergruppe aus allen Fraktionen zu bilden, um dann beim damaligen Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann (CDU), vorstellig zu werden. Häßler war skeptisch: Wie würde ein Gespräch mit Neumann ausgehen, an dem er, der Initiator, nicht beteiligt wäre? Andererseits: Konnte er widersprechen, wenn sich endlich etwas zu bewegen schien? Monate später teilte Bulmahn ihm mit, ein Gespräch mit Neumann habe stattgefunden. Ergebnis: Der Bund sei »bereits stark in der Finanzierung der Gedenkstätten engagiert«. Bulmahn legte Häßler nahe, »das Projekt nach so vielen Jahren, auch im Hinblick auf die damit verbundene Arbeit, nicht weiter zu verfolgen«.

Für Häßler war das ein Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte. Zwei Jahrzehnte lang hatte er viel Arbeit investiert. Nächtelang Briefe geschrieben. Auf jeden Einwand geantwortet. Viele Reisen unternommen, um Unterzeichner zur Mitarbeit zu gewinnen. An einigen Orten, wo KZ-Vergangenheit unter Asphalt verschwunden war, bei der Gründung von Gedenkstätten geholfen. Kontakte nach Israel, in die USA und zu anderen Ländern geknüpft. Auch schon manche Ausstellungsstücke gesammelt und sorgfältig registriert. Die Unterstützer in seinen gedruckten Mitteilungen auf dem laufenden gehalten. Geld für die Stiftung aufgebracht. Und vieles mehr. Daß ihm nun all die Arbeit als Argument gegen das Projekt vorgehalten wurde, war unerträglich.

Die Stiftung, inzwischen von Häßlers Sohn geleitet, will jetzt prüfen, ob das »Deutsche Holocaust-Museum – Dokumentationsstelle für die Auseinandersetzung mit NS-Gewalt« (am präzisen Namen mag noch gebastelt werden) vielleicht im Internet errichtet werden kann, falls die Politiker nicht doch noch ein Gebäude zur Verfügung stellen. Um eins zu finden, müßten sie nicht mehr lange suchen, wenn doch an zentraler Stelle in Berlin eins entsteht, für das es keine bessere Verwendung geben kann.