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Titel1714

Korrekt geprügelte Erinnerung  (Matthias Biskupek)

Wir waren mehrere Kinder und hatten einen Vater, der wunderbar erzählen konnte. Selbstverständlich löcherten wir ihn mit Fragen nach dem Krieg, ob er jemanden totgeschossen hatte. Heute höre ich immer mal wieder, daß derlei Dinge nicht zum deutschen Familienfragekatalog gehörten. Vielleicht waren wir zu jung, zu DDR-geprägt, daß wir so munter drauflosfragten. Mein Vater erzählte viel, der Frage nach dem Totschießen wich er aus und meinte nur: Es war Krieg.

Wir bekamen auch mit, daß mein Vater Spanienkämpfer gewesen war. Spanienkämpfer war in der DDR gleichzusetzen mit dem Thälmann-Bataillon. Dessen Kämpfer waren hoch angesehen, über mörderische Kämpfe innerhalb der Internationalen Brigaden wurde nichts erzählt. Es galt, sich korrekt im Sinne der Arbeiter-und-Bauern-Macht zu erinnern. Die Erinnerungen meines Vaters paßten dort nun gar nicht hinein. Er war Spanienkämpfer in der Legion Condor. Kaum achtzehn Jahre alt war er zum Wehrmachtsausbilder zitiert worden: »Sie wissen doch, daß auf der Halbinsel Rügen Krieg ist?« »Rügen, Herr Hauptmann, ist eine Insel …« »Ich sagte Halbinsel! Und ich sagte Krieg!« Kurz: Meinem Vater wurde klargemacht, daß auf einer südeuropäischen Halbinsel Krieg herrschte (in welchem Land war Staatsgeheimnis) und tapfere Leute gebraucht würden. Die für die Zeit ihres Kriegseinsatzes aus der deutschen Staatsbürgerschaft entlassen würden. Mein Vater bat sich Bedenkzeit aus – und wurde angeherrscht: »Sind Sie ein deutscher Mann? Ihre Papiere liegen bereits in Berlin!«

Von uns befragt, warum er denn gegen das spanische Volk für den Diktator Franco Krieg geführt habe, antwortete er: »Die Bäuerlein waren alle für Franco. Jedenfalls dort, wo wir lagen.« Mein Vater gehörte zu einer Flak-Abteilung.

Wir waren in der Schule korrekt genug, die persönlichen Erinnerungen unseres Vaters nicht mit der wissenschaftlich fundierten Lehrmeinung kollidieren zu lassen: Das gesamte spanische Volk stand auf Seiten der rechtmäßigen Regierung, leider konnten die Putschisten, gemeinsam mit deutschen und italienischen Faschisten, es niederringen.

Inzwischen bin ich selbst Vater und erzähle meinem Sohn schon lange nicht mehr von früher. Er hat schließlich das Früher, die DDR, selbst jahrelang erlebt. Allerdings wurde ich vor über einem Dutzend Jahren von Hinz und Kunz gefragt, wie das nun wirklich war, mit LPG und BKV und BGL und ABV und was derlei Buchstabenrätsel noch sind. Drum schrieb ich für eine Tageszeitung die Serie »Böhmische Dörfer in Deutsch und Geschichte«, in der ich Buchstaben erklärte und Begriffe wie »Großes Pionierehrenwort«, »Firma« oder »Reisekader«. Daraus wurde später ein Buch, mit dem ich durchs Land tourte. Vielleicht kamen zu derlei Veranstaltungen immer nur Leute, die Ähnliches wie ich erinnerten. Die Lesungen wurden oft zu Erzählstunden der Zuhörer, die verschiedene, auch einander widersprechende Erinnerungen hatten. Jedoch stimmten sie nie mit der heute wissenschaftlich fundierten Lehrmeinung überein: Unrechtsstaat, striktes Studienverbot für bürgerliche Kinder, Zwangsarbeit überall, Karriere nur durch SED-Mitgliedschaft, offizielle Mißhandlungen der Schüler durch Lehrer, besonders in Kinderheimen.

Im Unterschied zu meiner Kindheit kann man heute Fakten schnell nachschlagen. Daher weiß ich, daß die Prügelstrafe in der ehemaligen BRD erst 1973 abgeschafft wurde. In der DDR gab es sie nie. Wenn in meiner Schul-Kindheit einem Lehrer »die Hand ausrutschte«, wie es beschönigend hieß, gab es ellenlange Untersuchungen; der Entsprechende wurde zumindest versetzt.

Nun erscheint noch mal mein Vater in diesen unkorrekten Erinnerungen. Nach Gelegenheitsarbeit, Neulehrer und Wismut wurde er Schuldirektor in einem Spezialkinderheim, jenem in Neusorge, das dem Schriftsteller Günter Saalmann zur Folie seines weithin bekannten Kinderbuches »Umberto« wurde.

Das Spezialkinderheim war für »Schwererziehbare und Schwachsinnige«. Die Erinnerung muß auch solche heute unkorrekte Worte aushalten. Beide Bezeichnungen trafen oft nicht zu; mein Vater erzählte, wie Kinder, von ihren Eltern bei der Westflucht zurückgelassen, von Onkeln mißbraucht wurden oder bei Großeltern verwahrlosten, wie Kinder, deren Eltern als eilfertige Staatskader keine Zeit für ihren Nachwuchs hatten, als »schwachsinnig« eingestuft wurden. Er wußte von kindlichen, aber bewußten Brandstiftungen: Rache an der Welt.

Er mochte seinen Lehrerberuf, und er mochte Kinder, die wiederum ihn mochten. Daß wir zu Weihnachten fast immer Kinder aus dem Heim bei uns hatten, lag daran, daß manche nicht mal zu jener deutschen Kuschelzeit ein Zuhause hatten, die wirklichen Eltern wollten sie nicht, waren im Knast – nur sehr, sehr selten aus politischen Gründen – oder »unbekannt verzogen«.

Mein Vater starb vor fünfzehn Jahren. Läse er heute über die in jüngster Zeit immer »wissenschaftlicher«, sprich: politisch korrekter aufgearbeitete DDR-Heimkinder-Situation, würde er sich wundern, warum das alles mit seiner Arbeit, seinem Erleben so gar nichts zu tun hätte.

Vieles käme ihm spanisch vor. Doch schließlich war er als einstiger Spanienkämpfer bis 1989 im falschen Land auf der falschen Seite. Danach, im richtigen Deutschland angekommen, wurde sein Kampf plötzlich als richtig gewertet: mit einer höheren Rente.

Immerhin dürfen wir alle jetzt ungestraft sagen: Auf der Halbinsel Rügen wurden Kinder systematisch und staatlich verprügelt.