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Konsequenzen des West-Ost-Konflikts  (Wolfgang Bittner)

Der Euro steht im Verhältnis zum Dollar auf einem Tiefststand, und die deutsche Wirtschaft klagt über erhebliche Einbußen im Handel mit Russland. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft meldet (Stand Mai 2015): »Die deutschen Exporte nach Russland gingen 2014 um 18 Prozent auf 29,3 Milliarden Euro zurück … In den ersten beiden Monaten 2015 gingen die deutschen Russland-Exporte sogar um mehr als ein Drittel zurück. Für das Gesamtjahr 2015 ist ein Rückgang der deutschen Ausfuhren um 15 bis 20 Prozent möglich.« Und das erscheint noch optimistisch. Insofern sollte neben der militärischen Provokation und Aggression nicht der wirtschaftliche Aspekt aus den Augen verloren werden.


Der Chefanalyst der Bremer Landesbank, Folker Hellmeyer, sagte in einem Interview in den Deutschen Wirtschafts Nachrichten am 24. Juli: »Der Schaden ist viel umfassender, als es die Statistik sagt … Der Blick auf den Rückgang der deutschen Exporte per 2014 um 18 Prozent oder in den ersten beiden Monaten 2015 um 34 Prozent im Jahresvergleich erfasst nur einen Primärausschnitt. Es gibt Sekundäreffekte … Deutschland und die EU haben gegenüber Russland ihre ökonomische Zuverlässigkeit zur Disposition gestellt.« Abzuwarten bleibe, so Hellmeyer, inwieweit von den aufstrebenden BRICS-Ländern (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) die Sanktionspolitik der EU und Deutschlands als Affront nicht nur gegen Russland interpretiert werde. Die Achse Peking–Moskau plane »im Rahmen der Shanghai-Corporation und der BRICS-Länder das größte Wachstumsprojekt in der modernen Geschichte, den Aufbau der Infrastruktur Eurasien von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina und Indien«. Beunruhigend sei der Mangel an Weitsicht bei den europäischen Politikern, die offensichtlich nicht in der Lage seien, die definitiv eintretenden zukünftigen Schäden, die erheblich sein werden, einzuschätzen.


Hellmeyer weiter: »Es ist in der Tat irritierend. Menschen, die nicht nur auf ›westliche Qualitätsmedien‹ fokussiert sind, sind erstaunt über das mediale Ausblenden der Aggressionen Kiews und der durch die Regierung Kiews umgesetzten diskriminierenden Gesetze, die zu dem Anspruch westlicher Werte und Demokratie in einem krassen Missverhältnis stehen.« Bei dem »Coup« in der Ukraine sei »eine in der Tendenz gegenüber Moskau freundlich gesinnte Oligarchie durch eine jetzt den USA zugewandte Oligarchie ersetzt« worden; das sei Geopolitik, die dritten Kräften, nicht aber Deutschland und der EU und auch nicht Russland und der Ukraine nütze. Fakt sei, dass sich die aufstrebenden Länder von der US-Hegemonie emanzipierten, und das werde gerade deutlich an den Gründungen von Konkurrenzinstitutionen zur Weltbank (AIIB = Asian Infrastructure Investment Bank) und dem IWF (New Development Bank) seitens der Achse der aufstrebenden Länder (s. Ossietzky 8/2015).


Für den Analysten Hellmeyer ist der Konflikt schon entschieden: »Die Achse Moskau–Peking–BRICS gewinnt. Dort hat man vom Westen die Nase voll. 1990 hatten diese Länder einen Anteil von circa 25 Prozent an der Weltwirtschaftsleistung. Heute stehen sie für 56 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, für 85 Prozent der Weltbevölkerung. Sie kontrollieren rund 70 Prozent der Weltdevisenreserven. Sie wachsen pro Jahr im Durchschnitt mit vier bis fünf Prozent. Da die USA nicht bereit waren, internationale Macht zu teilen (zum Beispiel Voten in IWF und Weltbank), baut man im Sektor der aufstrebenden Länder ein eigenes Finanzsystem auf. Dort liegt die Zukunft … Die EU wird derzeit in den Konflikt, den die USA verursachte, weil sie keine Macht teilen wollte und teilen will, hineingezogen und damit in ihren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten sterilisiert. Je länger wir diese Politik in der EU verfolgen, desto höher wird der Preis, desto weniger wird man uns als Gesprächspartner ernst nehmen.«


Auch andere Finanz- und Wirtschaftsexperten warnen inzwischen vor den gravierenden Folgen der Sanktionen und der Aggressionen gegenüber Russland, so beispielsweise der Investor Mattias Westmann in einem Gastbeitrag für Focus Money am 16. Juli: »Jetzt wirft sich aber die Frage auf: Unter welchen Bedingungen können die Sanktionen wieder aufgehoben werden? Geschieht dies nur dann, wenn Russland die Krim wieder an die Ukraine zurückgibt, dann würden sich die Strafmaßnahmen als immerwährend erweisen. Schließlich unterstützt die lokale Krim-Bevölkerung die Wiedervereinigung mit Russland zu über 90 Prozent. Und auch angesichts der Lage in der Ostukraine würden die Menschen auf der Krim eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen nicht akzeptieren. Darüber hinaus ist für Russland der Marinestützpunkt Sewastopol sehr wichtig – sowohl in strategischer als auch in nostalgischer Hinsicht.«


Bemerkenswert, wie Westmann die russische Position einschätzt: »Aus russischer Sicht ist es nun einmal so, dass es durch einen Staatsstreich zum Handeln gezwungen wurde, der von ausländischen Mächten unterstützt wurde, und der sowohl Russlands wesentliche Sicherheitsinteressen bedrohte als auch das Wohl der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Russlands Vorgehen war in diesem Sinne defensiv, nicht offensiv. Hätte Russland vorgehabt, Kiew einzunehmen, dann hätte es das mit Leichtigkeit tun können. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass das jemals geplant war.«


Westmann kommt zu dem Schluss, dass Russland die Umsetzung von Minsk II zwar wünsche, es aber kaum etwas dazu beitragen könne, denn »die Haupthindernisse für die Verwirklichung von Minsk II liegen in Kiew«. Beeindruckend ist diese Stellungnahme, wie auch die von Reinhard Merkel in der FAZ vom 7. April zur angeblichen Annexion der Krim, insofern, als sonst ganz andere martialische Töne in Medien wie Focus und FAZ angeschlagen werden. Hier und da scheint Einsicht in die wahren Hintergründe der Krise einzukehren.


Ebenso deutlich äußerte sich der US-amerikanische Historiker und Russland-Experte Stephen Cohen, emeritierter Professor der Princeton University und der New York University, bereits am 2. Mai 2014 in der taz: »Wir schlittern in einen Krieg«; nicht Putin habe die Ukraine-Krise ausgelöst, sondern der Wunsch der USA, die Ukraine in die NATO zu holen. Im Juni 2015 warnte Cohen, jetzt passiere genau das, »was die NATO seit 15 Jahren angestrebt hat«, Verteidigungsminister Ashton Carter balanciere »am Rande eines Krieges mit Russland« (Sputnik Deutschland vom 28.6.2015). Die russische Regierung sei gezwungen, so Cohen, etwas dagegen zu tun, dass US-Truppen und schweres Kriegsgerät an ihren Grenzen stationiert werde. Doch auf jeden Gegenschritt Moskaus erfolge ein Gegenschritt Washingtons, und diese militärische Eskalation könne im Endeffekt zu einer »Konfrontation wie in der Kuba-Krise« führen. Der Westen überzeuge mit Propaganda die übrige Welt, dass Russland eine Bedrohung darstelle; das werde »von den Leuten getan, die seit Jahrzehnten nach einer Offensive gegen Russland lechzten«. Cohen resümiert: »Das ist nicht mehr die Ukraine, die sich verteidigt. Das ist die NATO, die expandiert.« Er empfiehlt Europas Politikern, sich darüber Gedanken zu machen, dass die USA weder den Euro retten noch billige Energieträger an die EU liefern könnten.


Aber der mörderische Bürgerkrieg in der Ukraine geht weiter. Kampfpausen nach den ersten Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen vom 5. September 2014 hat die Regierung Poroschenko/Jazenjuk genutzt, um nachzurüsten. Der Militäretat wurde erhöht, obwohl das Land quasi bankrott ist. Zuwendungen der EU und Deutschlands in Milliardenhöhe, die der ukrainischen Bevölkerung zugutekommen sollten, können also in die Finanzierung des Bürgerkriegs fließen.


Auch das zweite Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 12. Februar 2015 wird ohne eine massive Einflussnahme der USA nicht von der Kiewer Regierung eingehalten werden – fraglich, ob die Kriegstreiber in den USA, die eine starke Fraktion im Kongress stellen, überhaupt an einer Waffenruhe in der Ostukraine interessiert sind, ob sie nicht vielmehr eine weitere Eskalation und damit eine militärische Konfrontation mit Russland auf dem europäischen Kontinent anstreben. Es geht nach wie vor um große Waffenlieferungen an die Ukraine, die allerdings bisher von Präsident Obama nicht genehmigt wurden.


Dafür scheint es triftige Gründe zu geben. Von Beobachtern wird berichtet, dass sich die Lage in der Ukraine auch ohne die Einflussnahme der USA zuspitzt. Im Osten gibt es seit Juli wieder schwere Kämpfe und Tote. Die Regierungstruppen verschärfen unter Verletzung des Minsk-II-Abkommens erneut ihre Angriffe gegen die Separatisten, und im Westen wüten die Ultranationalisten des Rechten Sektors. Nachdem Petro Poroschenko mit Unterstützung der Neonazis an die Macht kam, droht jetzt der Führer des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, der 2014 zum Abgeordneten der Werchowna Rada und dann zum Berater des ukrainischen Generalstabs ernannt wurde, offen damit, Poroschenko zu stürzen. Dadurch könnte eine zusätzliche ernste Gefahr für Europa entstehen.

Wolfgang Bittner ist Schriftsteller und Jurist. Zuletzt erschien von ihm das vielbeachtete Buch »Die Eroberung Europas durch die USA«.