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Titel1812

Bemerkungen

Panzerstaat
»Nur keine Aufregung« – hieß es im freitag. Kommentiert wurde damit der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, daß in bestimmten Situationen der militärische Einsatz der Bundeswehr im Inland erlaubt sei. Das Gericht korrigierte damit sich selbst: Bei seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz im Jahre 2006 hatte es inländische Aktivitäten der Streitkräfte »mit spezifisch militärischen Waffen« noch ausgeschlossen. Nun sind in »Gefahrensituationen von katastrophischen Dimensionen« dem militärischen Instrumentarium keine Einschränkungen mehr auferlegt, auch schwere Waffen können verwendet werden. Wann droht eine »katastrophisch dimensionierte Gefahr«? Darüber entscheiden nicht Verfassungsrichter, zuständig ist, sagt das Bundesverfassungsgericht, das Bundeskabinett. Viel zu umständlich sei das, meint ein führender Unionspolitiker, der Bundesverteidigungsminister solle allein den Einsatzbefehl geben können.

Anders als der freitag hat ein Richter in Karlsruhe sich ob des neuen Tätigkeitsprofils für die Bundeswehr aufgeregt und ein Sondervotum abgegeben. Er sieht in dem Beschluß eine Änderung des Grundgesetzes auf kaltem Wege. Der subjektiven Einschätzung regierender Politiker, ob zum Beispiel ein politischer Massenprotest sich zur »Katastrophe« entwickeln könne, sei nun Raum gegeben. »Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen«, schreibt dieser Richter. Es ist wahrscheinlich, daß sich auch in der Bundesrepublik die sozialen Konflikte verschärfen, und es kann sein, daß immer mehr Menschen sich von dem Gebot »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« abwenden. Da liegt staatliche Vorsorge nahe, der Rückgriff auf die alte Devise: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.« Und weil wir nicht mehr im Obrigkeitsstaat leben, muß es dabei schön legalistisch zugehen, die Panzer beim Inlandseinsatz haben dann das Etikett »Vom Bundesverfassungsgericht zugelassen«.

A. K.



Personalzoologie
Spiegel online schrieb kürzlich: »Das Image der wichtigsten Volksvertreter ist miserabel: Nur jeder vierte Bürger vertraut der Arbeit des Bundestages ... Dramatische Abstimmungen zur Euro-Rettung, schlecht informierte Abgeordnete ... Nur 15 Prozent glauben, daß die Parlamentarier der Situation noch gewachsen sind.« Ein ehemaliger Bundespräsident hält die mit dem Grundgesetz kollidierenden Maßnahmen zur versuchten Rettung des Euro deshalb nicht für anfechtbar vor Gericht, weil »das Grundgesetz nicht die Staatspleite verbietet«. Offenbar hält er es für erlaubt, sie herbeizuführen. Laut Leipziger Volkszeitung »meldete« der neue Umweltminister Peter Altmaier »erstmals Zweifel an, ob alle Vorhaben (die er selber mitbeschlossen hat; G. K.) realisierbar seien«. Das neue Meldegesetz, beschlossen, muß am nächsten Tag geändert werden. Das Wort abgeordnet erhält so eine völlig neue Bedeutung.

Da spendet eine von dpa verbreitete Meldung aus den USA einen Lichtstrahl. In der kleinen Ortschaft Talkeetna im US-Staat Alaska ist seit 15 Jahren ein Kater namens Stubbs ehrenamtlicher Bürgermeister. Die Bürger »sind mit ihrem tierischen Ortsvorsteher mehr als zufrieden«. Denn »er erhöht unsere Steuern nicht, und er mischt sich nicht in unsere Geschäfte ein«. Für die, die nicht so gern nach Amerika schielen, bietet die europäische Geschichte eine Vorlage. Der römische Kaiser Caligula machte ein Pferd zum Konsul. Da kommt man schon ins Grübeln.
Günter Krone


Pussy-Besuch
Hubertus Knabe, Antikommunist, Buchschreiber und Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, hat dem Botschafter der Russischen Föderation, Wladimir Grinin, einen Bettelbrief geschrieben. Knabe will die drei verurteilten Musikerinnen der Punk-Band »Pussy Riot« im Gefängnis aufsuchen. Der Direktor hofft, daß die Behörden ihm erlauben, die drei Sängerinnen zu besuchen. Da Knabe seinen Antrag als Direktor gestellt hat, werden seine Reisekosten aus dem staatlichen Etat beglichen.
khw


Raubtierzucht
Die Fernsehsendung Panorama hat es zum öffentlichen Thema gemacht, aber zu befürchten ist, daß die Debatte rasch im Sommerloch verschwindet: Das Bundesministerium für »Verteidigung« erwägt, Drohnen für die Bundeswehr auch zum Zwecke des direkten militärischen Einsatzes anzuschaffen. Mit dem »Predator« (deutsch: Raubtier) hält die US-amerikanische Rüstungsindustrie ein erprobtes Modell zum Ankauf bereit, beim kriegerischen Killen von »Terroristen« in Afghanistan, Pakistan und im Jemen hat sich diese Drohne vielfach »bewährt«. Zu »Aufklärungszwecken« hat die Bundeswehr bereits ein israelisches Modell in Gebrauch. Auch dieses wird für militärische Operationen genutzt, aber es soll durch ein Gerät abgelöst werden, das per Rakete oder Bombe unmittelbar tödlichen Effekt hat. Über diese Umrüstung solle noch diskutiert werden, erläuterte der Sprecher des Bundesministeriums für »Verteidigung«, aber man sei überzeugt, daß die Kampfdrohne zur »militärischen Luftfahrt der Zukunft« gehöre.

Gleichzeitig wurde durch Spiegel online bekannt, daß die Bundesministerin für Bildung und Forschung (sie hat seinerzeit ihre Dissertation über »Gewissensbildung« geschrieben) den technologischen »Fortschritt« deutscher Rüstungsunternehmen finanziell fördert, auch hier geht es um die Weiterentwicklung von Drohnen, die zunehmend Bedeutung gewinnen für alle Arten der »Sicherheitspolitik«, Polizeieinsätze im eigenen Land eingeschlossen.
Beim Gebrauch out of area kommt mit den »Raubtieren« die neue »Philosophie« militärischer Zugriffe zum Zuge: Die physischen Risiken für das eigene Personal sollen durch technologische Innovationen minimiert werden. Per Joystick am Computer kann der Feind (oder derjenige, der zum Feind erklärt wird) zu Tode gebracht werden, zivile Opfer werden dabei in Kauf genommen. Virtuelle Kriegsführung hier, vernichtende Realität dort. Solche militärischen Aktionen, so wird kalkuliert, sind für die Bevölkerung im Land der Drohnen-Betreiber kein Ärgernis, weil sie Verluste nur der gegnerischen Seite bringen. Der »saubere Krieg« – für diejenigen, denen die tödlichen modernen Waffen zur Hand sind. Und ein hochprofitables Geschäftsfeld, stets neue Produkte anbietend, im blutigen Waffenmarkt. Da kann doch die Bundesrepublik nicht rückständig bleiben, denkt die Bundesregierung, denken offenbar auch die »Verteidigungsexperten« im Bundestag, bis hin zur SPD. Der Bundesminister für »Verteidigung« hat Kritiker beruhigt: Kampfdrohnen seien doch nichts weiter als »Flugzeuge ohne Piloten«. So wie Konrad Adenauer einst sagte, Atomwaffen müsse man einfach als moderne Artillerie begreifen.
Arno Klönne


Erzieherische Maßnahmen
Das von Gewalt durchtobte Land Syrien müsse in eine Demokratie verwandelt werden, fordert die Regierung Saudi-Arabiens. Offenbar ist sie kompetent in der Auslegung politischer Grundbegriffe. Um dem richtigen Verständnis derselben pädagogisch etwas nachzuhelfen, will sie ihren Bestand an schweren Panzern aufstocken. Ebenso das Scheichtum Katar, es greift bereits den syrischen Demokratieschülern mit leichteren Waffen unter die Arme. Als Lieferant der Leoparden und anderer Unterrichtsmaterialien steht die Bundesrepublik Deutschland bereit. Die ist ja eine Demokratie, noch dazu eine friedliebende. Deshalb gibt sie auch syrischen Rebellen die Gelegenheit, sich auf die Machtübernahme vorzubereiten. Noch viel direkter sind andere Staaten eifrig dabei, dem syrischen Volk demokratische Gewohnheiten beizubringen, neben den Golfstaaten auch die Türkei, allesamt »lupenreine Demokratien«, wie man es mit Gerhard Schröder ausdrücken könnte. Und auch die USA, Großbritannien und Frankreich betätigen sich als Demokratielehrer in Syrien, stecken Geld, Know-how und Personal in diesen praktischen Unterricht. Anfangs machten sie das nicht öffentlich, um den Anschein von Aufdringlichkeit zu vermeiden. Notfalls müssen die pädagogischen Helfer nun doch in Erscheinung treten. Erziehungsprozesse verlaufen, wie man weiß, oft nicht schmerzfrei, ganz ohne Druck geht so etwas nicht, wo für das Demokratie-Curriculum gehobelt wird, fallen eben auch Späne. Und so kommt es, daß viele Menschen in Syrien das Resultat all dieser Bemühungen gar nicht mehr erleben werden. Sie erfahren dann nicht, wie es in einer der westlichen Wertewelt verbundenen Demokratie, nach dem saudischen Muster etwa, zugeht.

Besser haben es da diejenigen Minister, Generäle et cetera aus dem Machtzirkel von Assad, die rechtzeitig den Willen verspürten, ins Lager der Demokratielehrer überzuwechseln. Dabei wird ein Schnellkurs dienlich gewesen sein, auch im Zählen und Rechnen, Lerneifer will belohnt werden.
A. K.


Das Durchschnittsbier
Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, als »arbeitgebernah« wird es üblicherweise bezeichnet, hat die Entwicklung der Kaufkraft von Arbeitnehmern im Vergleich der Jahre 1991 und 2011 ermittelt, immer schön im Durchschnitt. Demnach sind die Löhne in diesem Zeitraum um 45 Prozent, die Preise für Waren und Dienstleistungen um 43 Prozent angestiegen. Man sieht also: Dem »gemittelten« Lohnabhängigen geht es nicht schlechter als vor 20 Jahren, sogar ein bißchen besser. Eine Flasche Bier, haben die Forscher herausgefunden, ist heute wie damals mit einer Arbeitszeit von drei Minuten zu erwirtschaften, ein Kilo Schweinekotelett sogar mit sechs Minuten weniger als 1991, nämlich mit einer halben Stunde. Der Sprit fürs Auto muß allerdings länger als vor zwanzig Jahren erarbeitet werden, aber alles in allem: Deutsche Arbeitnehmer leiden keine Not, wer weiß, wohin es führen würde, wenn sie sich noch mehr nahrhafte Getränke für wenig Arbeitszeitaufwand leisten könnten. Unsinn ist es, so belehrt uns eine solche Statistik, wenn die Gewerkschaften Mindestlöhne einfordern. Eine Stunde Arbeit – und schon stehen zwanzig Flaschen Bier auf dem Tisch.
M. W.


Fundgrube für Historiker
Die deutsche Novemberrevolution von 1918 gilt als gut erforscht; ihre Hauptakteure sind bekannt: Rosa Luxemburg als theoretische Wegbegleiterin der Aufständischen, Karl Liebknecht als derjenige, der am 9. November die »Freie Sozialistische Republik Deutschland« ausrief, Gustav Noske als »Bluthund« und militärischer Totengräber der Revolution und Friedrich Ebert als Reichskanzler und späterer Reichspräsident, der dann die revolutionären Wirren in geordnete, bürgerliche Bahnen lenkte ...

Der Metallarbeiter Richard Müller ist weniger bekannt, obwohl er als Sprecher der »Revolutionären Obleute« und Vorsitzender des »Berliner Arbeiter- und Soldatenrates« zu den wichtigsten Akteuren des Umbruchs gehörte. Müller gilt als einer der Begründer des Rätekommunismus. Sein zwischen 1924 und 1925 erschienenes dreibändiges Werk zur Geschichte der deutschen Novemberrevolution fand allerdings wenig Beachtung. Die Rechte verübelte Müller die ungeschminkte Darstellung des konterrevolutionären Terrors und der schändlichen Rolle der SPD. Der Linken war er wegen seiner gelegentlichen Kritik an Karl Liebknecht suspekt.

Die drei längst vergriffenen Bände »Vom Kaiserreich zur Republik«, »Die Novemberrevolution« und »Der Bürgerkrieg in Deutschland« wurden jetzt in einer kommentierten Ausgabe neu herausgegeben, dabei zu einem Sammelband zusammengefaßt. Das Buch ist immer noch eine Fundgrube für Historiker, nicht nur, weil Müller am revolutionären Geschehen unmittelbar beteiligt war und über Informationen verfügte, die an anderer Stelle nie schriftlich niedergelegt wurden. Müllers Ausführungen sind auch zahlreiche Nachdrucke von Dokumenten und Zeitungsartikeln beigefügt, die sonst nirgendwo mehr vorhanden sind.

Müller untersucht detailliert die sozialen Ursachen der Revolution: der entsetzliche Hunger der Kriegsjahre, Anstieg der Lebenshaltungskosten, rücksichtslose Ausbeutung in den Betrieben, während eine Handvoll Kriegsgewinnler märchenhafte Gewinne einfuhren. Der Autor schildert, wie nach dem Verrat der SPD linke Gewerkschaftsaktivisten nach und nach die Burgfriedenspolitik durchbrachen und sich schließlich an die Spitze einer allgemeinen Unmutsbewegung setzten. Das alte Regime fiel daraufhin wie ein Kartenhaus zusammen.

Entgegen der von bürgerlichen Historikern verklärend dargestellten damaligen Rolle der SPD als Garant der Demokratie gegen Putschversuche von rechts und links schildert Müller die Kumpanei der sozialdemokratischen Parteiführung mit kaisertreuen Generälen, rechtsradikalen Freikorps und antisemitischen Geheimbünden. Die wenigen Versuche einer gewaltsamen Machtergreifung von links waren entweder auf die Tätigkeit bezahlter Provokateure zurückzuführen oder aber Reaktionen auf konterrevolutionäre Aktivitäten. Ausführlich schildert Müller den »Spartakusaufstand« der KPD von Januar 1919 in Berlin. Liebknecht ging gezielten Fehlinformationen auf den Leim, als er eine Protestwelle gegen die Regierung zur Machtergreifung nutzen wollte. Die Erhebung war durch regierungstreue Einheiten bereits niedergeschlagen, als rechtsradikale Freikorps das Blutbad anrichteten, dem auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Opfer fielen.

Gerd Bedszent

Richard Müller: »Eine Geschichte der Novemberrevolution«, Die Buchmacherei, 788 Seiten, 22,95 €



Der Abwicklung zweiter Teil
Im ersten Band seiner Untersuchung über das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR hatte Werner Röhr die historischen Forschungseinrichtungen und ihr Schicksal vorgestellt. In der Rezension des Bandes (s. Ossietzky 1/12) hatte ich die Hoffnung ausgedrückt, daß Band 2 rasch erscheinen möge, da er die dazugehörigen und die Ergebnisse zusammenfassenden Tabellen und Übersichten enthalten soll. Das ist nun überraschend schnell geschehen. Die im Anhang zu diesem Band enthaltenen hundertfünfzig Tabellen und Übersichten erschließen den ungeheuer reichhaltigen und akribisch aufgearbeiteten Materialfundus weiter und belegen erneut, daß an dem Band niemand, der am wissenschaftlichen Befund interessiert ist, wird vorbeigehen können. Der weiteren Erschließung dienen auch die umfangreichen Literatur-, Quellen- und Personenregister.

Den Hauptteil des zweiten Bandes aber macht die Analyse ausgewählter Forschungsrichtungen aus. Die Auswahl ist selbstverständlich subjektiv und vom eignen Forschungsinteresse bestimmt, da niemand für sich in Anspruch nehmen kann, die gesamte Forschungsleistung der DDR-Geschichtswissenschaft überblicken und dann auch noch einschätzen zu können. Zudem hat Werner Röhr jene Richtungen und Debatten ausgewählt, die seiner Ansicht nach besonders innovativ und gediegen waren und (deshalb?) heutzutage von der Zunft besonders intensiv beschwiegen werden.

Werden die Themen chronologisch angeordnet, so ergibt sich folgendes Themenspektrum: 1. Genesis und Wesen des okzidentalen Feudalismus; 2. Die deutsche Stadt im Mittelalter; 3. Sozialreligiöse Bewegungen beim Übergang zum Hochmittelalter; 4. Die deutsche frühbürgerliche Revolution; 5. Vergleichende Untersuchungen zu den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit in Europa (bis 1848/49); 6. Agrargeschichte und Alltagsgeschichte der Landbevölkerung; 7. Faschismus, Weltkrieg, Widerstand.

Das letztgenannte Thema versteht sich von selbst, da es über Jahrzehnte der Hauptforschungsgegenstand des Verfassers war. Aber es ist schon bemerkenswert, daß die übrigen Themen auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit beziehungsweise auf die Agrargeschichte konzentriert sind, also viele Forschungsgegenstände und historische Perioden fehlen (ich kann und will sie gar nicht alle auflisten). Das ist, ob der Verfasser will oder nicht, auch ein Urteil über die DDR-Geschichtswissenschaft, und zwar eines, dem nicht jeder wird beipflichten wollen. Die Fachleute werden sich darüber streiten, Anregungen dazu gibt der Band zur Genüge.
Thomas Kuczynski

Werner Röhr: »Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Band 2: Analyse ausgewählter Forschungen – Übersichten – Register«, Edition Organon, 640 Seiten, 34 €. Am 13.9. stellt Werner Röhr sein Buch um 19 Uhr in der Ladengalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin, vor.



Zur rechten Zeit
Die Unzeit ist keine Zeit, die Wunden heilt. Und mit ihr kommt auch kein Rat. Ein »Gesang zur Unzeit« jedoch kann zur rechten Zeit kommen. Wie der so betitelte schmale Band voller Lyrik des Hamburger Autors Dieter Brumm.
Ich lernte Dieter Brumm Anfang der siebziger Jahre in Hamburg kennen, nach der Auseinandersetzung mit dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein um redaktionelle Mitbestimmung und dem Hinauswurf der Opponenten. Außer Brumm traf es den heutigen Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler und den jetzigen konkret-Herausgeber Hermann Gremliza sowie Alexander von Hoffmann und Bodo Zeuner. Brumm fand damals den Weg zur Deutschen Journalisten-Union in der IG Druck und Papier, in deren Hamburger Vorstand ich mitwirkte. Später wurde er ihr Vorsitzender im Landesbezirk Nordmark.

Brumm, 1929 geboren, studierter Philosoph, hatte im Ressort Geisteswissenschaften des Magazins gearbeitet. In Erinnerung sind mir seine Spiegel-Interviews mit Vertretern einer Gruppe jugoslawischer Philosophen und Sozialwissenschaftler, die einen sogenannten undogmatischen Marxismus vertraten und die Zeitschrift Praxis herausgaben, die der Gruppe den Namen gab.

Sein weiterer beruflicher Werdegang: Freier Autor unter anderem für den NDR und die Süddeutsche Zeitung, Engagement bei Amnesty International und seit 1982 Medienreferent der Rundfunk-Fernseh-Film-Union, die heute zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft gehört. Als Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbunds war er an der Gründung des deutsch-französischen Kulturkanals Arte beteiligt.

Und nun also Dichter. Ein Poet. Nicht in den Fußstapfen seines Freundes Peter Rühmkorf, ihm hie und da aber folgend in der Ironie. Er verdichtet seine Erlebnisse, seine Beobachtungen und Erfahrungen, kurz: die Essenz seines langen Lebens zu teils melancholischen, teils bitteren Assoziationen. Gegen den »Markt, der Natur und Mensch ausbeutet«, der Gefühle, Empfindungen, Sprache »zum Warentext schrumpft«. Inzwischen wurden einige dieser Gesänge – »Geschenke an Freunde der zu sich selbst findenden Welt«, wie sie Brumms Gewerkschaftskollege Peter Völker im Vorwort charakterisiert – von dem in Hamburg lebenden bosnischstämmigen Arzt und Musiker Adnan Pintul vertont. Bald gibt es sie auf CD.

Klaus Nilius

Dieter Brumm: »Gesang zur Unzeit«, Verlag Books on Demand, 95 Seiten, 19,90 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Die junge Finnin Riikka Pulkkinen, die in Helsinki Literatur und Philosophie studiert hat, wird durchlebt haben, was sie in ihrem Buch schildert, sie wird es erfahren haben, wird wissen, was das Urteil Krebs im Menschen auslöst, in einer Frau wie Elsa, einer Akademikerin, die immer aktiv und der Welt zugewandt war, dabei aber die innige Bindung zu Mann und Tochter nie verlor. Riikka Pulkkinen weiß auch um die Liebe und was es Elsa bedeutet, ihre Liebe teilen zu müssen mit einer jüngeren Frau, der Studentin Eeva, die als Kindermädchen in der Familie aufgenommen wurde, sie weiß um die Konflikte, die Elsas Mann, den Maler Martti, zerreißen, kennt die Ursachen für seine Launen, seine Unbeherrschtheiten, die aus der Unentschiedenheit rühren, seinem Verlangen nach beiden Frauen, und sie versteht, daß er die Flucht in eine Arbeit suchte, bei der er Erfüllung zu finden hofft – was ihm jedoch zeitlebens versagt bleibt. Sie weiß von den Fesseln der Liebe, von der Gefangenschaft, in die Eeva geraten ist, einem Zustand, aus dem es kein Entrinnen gibt. Sie fühlt sich ein in Eevas Selbstaufgabe und in ihre Verzweiflung nach dem Bruch, den der Maler erzwungen hat und wieder und wieder zu heilen versucht – bis am Ende nichts mehr geht. Aus eigener Erfahrung scheint Riikka Pulkkinen zu wissen, wie schwer es ist, nach all den Rückschlägen eine neue Beziehung einzugehen und Hoffnung daraus zu schöpfen – eine Hoffnung, die dann, wie in Eevas Fall, an der kriminellen Rücksichtslosigkeit des jungen Mannes zerschellt: Marc, der ihr eine unbeschwerte Zukunft versprach, verläßt sie nicht bloß, er bestiehlt sie auch. Und wenn hier verraten wird, daß Eeva nach diesen Erfahrungen freiwillig aus dem Leben scheidet, dann nur, weil Riikka Pulkkinen selbst Eevas Todeswunsch über lange Strecken auf subtile Weise andeutet und den Verfall der jungen Frau vor Augen führt. Hierin besonders zeigt sich ihre künstlerische Meisterschaft, aber auch in ihrer Beobachtungsgabe, ihrem genauen Blick fürs Detail – und in der Schilderung des Liebesakts, den sie mit sparsamsten Worten bildhaft zu machen versteht.

Mag man sich auch beim Einlesen in den Roman weniger Verschiebungen der Zeitebenen wünschen, weniger Rückblenden (auch Vorblenden gibt es, die Zukünftiges preisgeben), so erkennt man doch bald, daß es Riikka Pulkkinen immer wieder gelingt, Neugier zu wecken und die Spannung zu halten. Während der Wochen von Eevas Flucht vor ihrer großen Liebe durch drei europäische Städte bis hin nach Paris und von dort zurück ins finnische Elternhaus fragt man sich ständig, was wird aus ihr, was bloß wird aus ihr? – obwohl doch längst bekannt ist, daß sie in jungen Jahren starb.

Riikka Pulkkinen hat ihren Roman »Totta« genannt, was die einfühlsame Übersetzerin Elina Kritzokat mit »Wahr« übersetzt hat. Wahr mutet das ganze Buch an, und zutreffend auch das ihm vorangestellte Zitat der Karen Blixen: »Alles Leid wird erträglich, wenn man es einer Geschichte eingliedert oder eine Geschichte darüber erzählt.«
W. K.
Rikka Pulkkinen: »Wahr«, übersetzt von Elina Kritzokat, List Verlag, 357 Seiten, 18 €


»Empört euch, bewegt euch«
... so schallte es Anfang August quer durch den Hamburger Stadtpark. Auf der Bühne: Konstantin Wecker mit Band sowie Esther Bejarano, die Antifaschistin, Sängerin im Auschwitzer Mädchenorchester, seit Jahrzehnten als Zeitzeugin und Sängerin unterwegs. Das Konzert glänzte durch kapitalismuskritische Lieder und fand darin auch seine größte Kraft. »Ich glaube an den Wachstumswahn, nehmt mich mit nach Absurdistan« und »Das Lächeln meiner Kanzlerin« – von Wecker im Stil Georg Kreislers gesungen, viele Politsongs wie »Alles soll morgen besser sein, so lullt man uns mit Zukunft ein!« erklangen. Dazu Kästners »Phantasie von übermorgen«, aufrüttelnd und hochaktuell.

Solange es politisch war und blieb, war Konstantin Wecker gut, ein Sänger mit Kraft, abwechslungs- und ideenreich, allerdings auch mit der oft Bänkelsängern eigenen Art, bei Liebesliedern in den Kitsch abzurutschen. Augenscheinlich war das Publikum aber zur Hälfte aus diesem Grund da: Rührige weiß- und grauhaarige Liebespaare im Rudi-Dutschke-Alter hatten es sich auf Decken bequem gemacht oder tanzten zu den rockigen Weisen. Es war schön, eine liebesinnige Stimmung. Doch auch junge Leute waren da, und es gab keine Feindschaft zwischen diesen Alten und diesen Jungen.

Als dann Esther Bejarano, die viel zu wenig Lieder sang, auf die Bühne kam und in ihrer kleinen Statur neben Konstantin Wecker wie eine Maus neben einem Löwen stand, trat gespannte Ruhe ein. Alle erhoben sich und erwiesen der alten Dame die Ehre. Als sie dann loslegte und ihr Lied »Mir leben ewig« vortrug, schien die Kraft ihrer Stimme das Bühnendach anzuheben. Die Leute machten sich größer, und die, die noch lagen, sprangen von ihren Decken auf, klatschten, sangen mit, ließen sich inspirieren und Mut machen – innerhalb von Sekunden, von einer 87jährigen Frau. Sensationell. Zusammen mit Wecker sang Bejarano dann noch: »Sage Nein!« Die Botschaft, Widerstand zu leisten gegen das, was uns sonst so viel Ohnmacht verursacht – Willkür, Rechtlosigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt ... – brachte besonders sie glaubwürdig sowie klanglich und stimmlich mit großer Kraft rüber.

Wunderbar karikierend war dann das, von Wecker allein gesungene Lied von der Düsseldorfer Einkaufsmeile Kö: »Gewisse Damen auf der Kö haben ein Problem: Zuviel Geld im Portemonö ...«, dem folgte die »Ansprache an Millionäre«, vertont nach Kästner: »Warum wollt ihr so lange warten ..., sie werden euch in die Flüsse jagen, dann wird es zu spät sein, ihr sollt ja nicht aus Güte handeln.«

Von den Liebesliedern fand ich die von Brecht am originellsten: »Deshalb fürchte ich mich vor jedem Regentropfen ..., denn der, den ich liebe, hat mir gesagt, daß er mich braucht ...« Ein schöner Sommerabend mit einem freundlich gestimmten Konstantin Wecker, der ab und an, getragen von einem jubelnden Publikum, ausrastete und am Ende fast nicht mehr aufhören konnte, Zugaben zu spielen, die schließlich immer italienischer wurden, was den Liebesliedern ungemein gut tat.

Anja Röhl
Die aktuellen Termine zur Tour »Wut und Zärtlichkeit« sind der Website www.wecker.de zu entnehmen.


Zuschriften an die Lokalpresse
Wie die Zeitungen berichten, verwenden die Taliban in Afghanistan Waffen und Munition aus Rußland, Deutschland, China, den USA, Tschechien und anderen Staaten. Darunter ist laut Presse auch Markenware, so Walther-Pistolen aus Ulm und schwäbische Sturmgewehre von Heckler und Koch. Das zeigt, wie hoch die Qualität deutscher und anderer Produkte international geschätzt wird.

Und daß gegnerische Truppen mit den gleichen Waffen aufeinander losgehen, das hat es doch schon im Ersten Weltkrieg gegeben. – Paul Bromeleit (82), Rentner, 15711 Deutsch Wusterhausen
Wolfgang Helfritsch

Press-Kohl
Innere Organe verdienen Beachtung! Darmträgheit, Verstopfung und ähnliche Funktionsstörungen sind nur jenen Leuten lästig, die immer noch nicht gelesen haben, wie es wirklich in unserer Welt zugeht: »Sauerkraut macht Ihrem Darm Beine.« Diese Feststellung sollte nicht nur mir eine Warnung sein. Ich sitze manchmal faul und gedankenlos auf meinem drehbaren Fernsehstuhl ..., und da läuft plötzlich einer meiner Därme weg. Was fällt dem denn ein. »He!« rufe ich drohend. Drauf muffelt er laut und frech: »Will mir bloß mal ‘n bißchen die Beine vertreten.«
Felix Mantel