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Titel182013

Deutsche Rätsel für Amerikaner  (Victor Grossman)

US-amerikanische Zeitungsleser und Fernsehzuschauer mit Interesse an Deutschland haben es in letzter Zeit nicht leicht. Früher schien alles ganz einfach zu sein. Um die beiden deutschen Staaten auseinanderzuhalten, gab es drei hervorstechende Merkmale, an denen man sie verläßlich erkennen konnte, so daß jede Verwechslung ausgeschlossen war. Die Bösen, das waren die im Osten, also unweit Rußlands. Auf drei Gebieten zeigte sich ihre schreckliche Härte, ihre Verwerflichkeit, ja Unfairneß.

Das eine Gebiet – für manche das wichtigste – war der Sport. DDR und Doping waren Synonyme. Die im Osten hatten sich dadurch für immer disqualifiziert. Aber nun erfahren wir das Unglaubliche: Die im Westen machten es genauso. Anabolika, Testosteron, auch Epo, sogar für Minderjährige. Und das nicht etwa aus Rache gegen die Rückenschwimmer, Stabhochspringer und Springerinnen des Ostens, sondern parallel dazu. Die fieberhaften Beteuerungen, das sei doch im Westen etwas ganz, ganz anderes, helfen leider nur wenig. O je, kann man nur sagen, in Twitter-English: OMG (Oh my God!).

Für solche, die sich nicht nur für Sport interessieren, sondern auch gern Filme wie »Das Leben der Anderen« sehen, kam dann der zweite Schock. Sie hatten früher erfahren, daß die Aktenschränke für die rund 200 Kilometer Akten der grausamen Stasi nicht weniger als 0,019 Quadratkilometer Fläche beanspruchen und daß man immer noch damit beschäftigt ist, diese Dokumente, wo erforderlich, zu durchforschen und zusammenzukleben. Doch nun braucht man für die von der NSA und ihren Partnern gesammelten E-Mails, SMS-Botschaften, Faxe und Telefonanrufe ausgedruckt und in 42 Billionen Aktenschränke verpackt etwa 17.000.000 Quadratkilometer Stellfläche (s. http://apps.opendatacity.de/stasi-vs-ns) – und die Daten können mit Lichtgeschwindigkeit herangeholt werden. Zwar stellt Angela Merkel klar: Dies beides darf man nicht miteinander vergleichen, denn eine Demokratie braucht zu ihrem Schutz eine effiziente Aufklärung, während ein sozialistischer Staat selbstverständlich kein Recht hat, sich zu schützen. Andere sagen: So unangenehm die Stasi-Leute waren, gemessen an der US-amerikanischen NSA waren sie so harmlos wie Boy Scouts, Pfadfinder.

Ja, das ist verwirrend! Doch eins erscheint dem US-amerikanischen Zeitungsleser und Fernsehzuschauer nach wie vor sicher: Es gab nur die eine Mauer! Und die war da, um die eigenen Leute einzusperren. Daß sie Faschisten draußen halten sollte, glaubt niemand. (Glauben?) Aber wenn nun ein an Deutschland Interessierter ein bißchen nachschlägt und nachliest, kann er auf Folgendes stoßen: Am 30. Juli 1961 (also 14 Tage vor dem 13. August) sagte im Fernsehen der damals weltweit bekannte Senator William Fulbright: »Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenze zumachen, denn ich glaube, sie haben das Recht, sie zu schließen.« Unter Druck mußte Fulbright diese Worte später zurücknehmen. Vielleicht wichtiger jedoch, was Präsident John F. Kennedy nach dem 13. August 1961 sagte (zitiert in dem Buch »Berlin 1961« von Frederick Kempe): »Das ist keine sehr schöne Lösung. Doch eine Mauer ist verdammt besser als ein Krieg.«