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Titel1910

Bemerkungen

Vor deutschen Stadttoren
Ein bekannter deutscher Text schildert eine Unterhaltung vor einem Stadttore. Ein Bürger sagt: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus / Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.« Woran sich ein anderer zustimmend anschließt: »Herr Nachbar, ja! So laß ich’s auch geschehn: / Sie mögen sich die Köpfe spalten, / Mag alles durcheinander gehn ... / Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.«

Da angekommen, wäre an die Szene, die sich vor mehr als 200 Jahren an einem frühlingshaften Festtag vor einem deutschen Stadttor abgespielt hat, die Frage zu knüpfen: Könnte sich Gleiches oder Ähnliches heute zutragen? Oder heißt nicht allein so fragen, Menschen hierzulande verdächtigen, gar beleidigen? Denn: Es ist doch erwiesen, daß sie sich für das Geschehen im fernen Afghanistan interessieren. Die Quote derer, die den Krieg ablehnen, liegt nach verläßlichen Befragungen höher als 60 Prozent. Zwei Drittel der Deutschen wünschen, daß die eigenen Soldaten jenes Land verlassen und Deutschland nicht länger ein kriegführender Staat bleibt.
Merkwürdig nur, so würde ein anderer Bürger hinzufügen können, daß der Bundesminister, der für diesen »Einsatz« eine besondere Verantwortung trägt, ihn mit beschlossen hat, rechtfertigt und weiter fortsetzen will, die Beliebtheitsskala deutscher Politiker anführt. Bezeugt das nicht, könnte einer fragen, ein wenig Schizophrenie? Und der nächste in der Runde würde womöglich die Frage hinzusetzen: Entwertet die eine Äußerung nicht die andere? Und dann mischte sich, anders als bei jenem Spaziergang vor mehr als 200 Jahren, ein aufgeweckter Schüler ein (was jener, der sich damals in der lockeren Gesellschaft aufhielt, nicht tat, weil er nur nach den »wackern Dirnen« schielte und sich an deren Fersen heftete), um von den Älteren zu erfahren: Was ist eigentlich eine Stimme gegen den Afghanistan-Krieg wert, die bei einer Telefon- oder Straßen- oder Internetbefragung abgegeben wird? Hat sie Gewicht? Worauf sich dessen ebenfalls wißbegieriger Freund mit der Frage anschlösse: Und was, wenn bei der nächsten Wahl diejenigen wiedergewählt werden, die diesen Einsatz und mehrfach seine Fortsetzung beschlossen haben?

Aber gemach! Derlei im Wesentlichen mündende Gespräche vor deutschen Stadttoren sind selten, und es läßt sich ihnen bequem ausweichen.

Kurt Pätzold


Strahlende Sieger

Besser konnte es für die Energie-Oligopolisten nicht kommen, die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich ihnen gegenüber nach dem Motto verhalten: »Ihr Wunsch ist mir Befehl«. Der Ausstieg aus dem Einstieg in den Ausstieg aus der Atomstromwirtschaft ist angebahnt, die Brennelementesteuer auf sechs Jahre befristet. Weitere Abgaben aus den milliardenschweren Zusatzgewinnen der Konzerne sollen in einen Sonderfonds gehen, bei dessen Verwaltung die Unternehmen gewiß ein kräftiges Wort mitreden werden. Die Marktmacht von e.on, RWE, EnBW und Vattenfall ist damit bestärkt, alternative Energie-Anbieter werden an den Rand gedrängt, das Steuervolk hat noch mehr Kosten für atomaren Müll zu übernehmen. Mit so großzügigem »Entgegenkommen« hätten die Energie-Magnaten gar nicht gerechnet, kommentierten Wirtschaftsanalysten, und die Financial Times Deutschland meldete am Tag nach den Absprachen zwischen Koalition und Konzernen: »Für die großen Versorger ein Sieg auf der ganzen Linie. An der Börse sind die Aktien dieser Unternehmen heute die Stars. Schade nur, daß die Verbraucher nicht mit sinkenden Strompreisen rechnen können.«

Zukunftsweisend die Methode, mit der hier Politik gemacht wurde. Bis in die frühen Morgenstunden besprachen die Regierenden mit den Konzernmanagern die Details des Programms, das sie dann der Öffentlichkeit als ihre Weisheit bekanntgaben, manches davon wurde aber vorsichtshalber erst einmal nicht publik gemacht. #

Wo so viel Kapital sich angesammelt hat, steckt eben auch der »Sachverstand«. Einem Parlament darf man bekanntlich nicht zuviel an gedanklicher Anstrengung zumuten. Darum sind »Vorverträge« der marktbeherrschenden Unternehmen mit den Regierenden hilfreich. Die Konzerne versorgen nicht nur mit Energie, sondern auch, ganz energisch, mit Hinweisen, was die Exekutive zu exekutieren hat.
Arno Klönne


Joschkas langer Lauf
Joseph Fischer, ehemals Alphatier der Grünen und deutscher Außenminister, ist nach wie vor staatsmännisch tätig: »Fischer fordert Putin im Gaspoker heraus«, meldete neulich Zeit-online im Zusammenhang mit dem Pipeline-Projekt Nabucco, bei dem Fischer den RWE-Konzern berät. Aber ausgelastet ist Joschka, der zuvor schon Beratertätigkeiten für BMW und Siemens übernommen hatte, damit noch immer nicht, er wird jetzt Berater auch für den REWE-Konzern, der seine Geschäfte im Lebensmittelhandel und in der Touristik macht. Hier soll er sich um das Unternehmensprinzip »Nachhaltigkeit« kümmern. Der Konzernumsatz bei REWE lag im vergangenen Jahr bei 50 Milliarden Euro, und diesen Erfolg gilt es zu stabilisieren und auszubauen. In Zukunft trage ich also, wenn ich bei REWE einkaufe, ein Scherflein zu Joschkas Lebensunterhalt bei, der gewichtige Mann hätte nicht sein Auskommen, wenn er sich auf seine bisherigen Jobs beschränken müßte, das Geld reicht einfach nicht hin.

Einen »langen Lauf« hatte der grüne Leader einst angekündigt, »zu sich selbst«. Und nun läuft er und läuft.
Marja Winken


Nicht anstößig
Der Parteivorstand der SPD hat sich für den Ausschluß Sarrazins ausgesprochen – bei einer Stimmenthaltung. Die kam von Dietmar Hexel, der dem Bundesvorstand des DGB angehört. Nach einem Bericht der Zeit erklärte Hexel, in dem Buch »Deutschland schafft sich ab« habe er »nichts Anstößiges gefunden«. Wonach hat er gesucht – nach pornographischen Bildern?

Daß Sarrazin zum Kampf gegen die »Vermehrung bildungsferner, vom Transfer abhängiger Unterschichten spezifischer Herkunft mit unterdurchschnittlicher Intelligenz« auffordert, ist dem lesenden Gewerkschaftsführer offenbar kein Anstoß gewesen; für Fragen eugenischer Selektion ist er nicht zuständig. Und um die Menschenrechte türkischer »Hartz IV«-Bezieher müssen sich ja nicht die Gewerkschaften kümmern. Wie kämen sie dazu!
Peter Söhren


Sarrazin und das Latinum
»Hic Rhodus, hic salta!« – so die Schlußzeile des derzeitigen Superbestsellers, ein »Zuruf« des Autors an »die Politik«. Woher diese Neigung zum Altsprachlichen, während doch in der deutschen Wirtschaftswelt das Denglische üblich ist? Eine Erklärung dafür ist ziemlich versteckt im Buch zu finden: Sarrazin erzählt, daß er im Gymnasium einmal sitzengeblieben ist, unter anderem wegen einer Fünf im Fach Latein: »Das war mir eine Lehre. Bei mir hat die Sanktion und die Furcht, es nicht zu schaffen, gewirkt (sie wirkt übrigens bis heute).«

Den Versuch allerdings, ganze Passagen seines 462 Seiten starken Werkes lateinisch zu formulieren, hat der Autor nicht unternommen; so etwas schafft man im Vatikan eben besser. Auch sind die »Leistungsträger«, die er hegen und pflegen und zur Geburtenmehrung anregen möchte, möglicherweise denn doch des Lateinischen generell nicht kundig, Rhodus und salta aber können sie schnell bei Wikipedia finden. Und die genetisch belasteten Unterschichtler kommen als Lateinleser so wie so nicht in Betracht, da würden auch furchterregende Sitzenbleib-Sanktionen nicht fruchten.
A. K.


Sarrazin und die »Tafel«

»Jeder gibt, was er kann«, mit diesem Slogan werben die »Tafeln« um Mildtätigkeit, damit diejenigen Menschen, denen trotz oder wegen Hartz IV das Geld für den Kauf von Lebensmitteln fehlt, nicht hungern müssen. Aber wieso eigentlich? Thilo Sarrazin (der »Volksheld«, zu dem er dank Konzernpresse geworden ist) hat doch vorgerechnet, mit 4,25 Euro pro Tag könne sich ein Transfer-Empfänger »vollständig, gesund und wertstoffreich ernähren«. Sarrazin ist Finanzexperte. Eine Pensionszahlung von 10.000 Euro monatlich hat er jetzt für sich ausgehandelt. Das ist beruhigend; er jedenfalls muß der »Tafel« nicht zur Last fallen.

Um den Slogan abzuwandeln: Sarrazin nimmt, was er kann, und die Bundesbank gibt.
Marja Winken


Niedriglöhne, Dumpinglöhne
Politiker, Verbandsfunktionäre, Leitartikler, mehr oder weniger unabhängige Wissenschaftler äußern sich erleichtert: Aus der Krise sei Deutschland gestärkt hervorgegangen – nämlich weniger geschwächt als andere Länder. Nun gedeihe die Wirtschaft wieder.

Vorsicht! Der Aufschwung geht fast ausschließlich vom Export aus, vor allem der Absatz von Maschinen und Autos im Ausland hat sich erhöht – nicht unbedingt aus Vorliebe für deutsche Produkte, sondern wegen des derzeitigen Umtauschverhältnisses zwischen Euro und Dollar. Deutsche Exportgüter sind dadurch preisgünstiger als andere. Darauf ist aber auf Dauer kein Verlaß. Die Prognosen werden schon wieder schlechter. Wachsen müßte jetzt vor allem die Binnennachfrage, aber die Kaufkraft der Deutschen stagniert in Relation zum Gesamtwachstum der Wirtschaft und geht sogar zurück.

Ein wesentlicher Vorteil der deutschen Exportwirtschaft sind relativ niedrige Löhne. Daß immer mehr Menschen zu schlecht bezahlter Zeitarbeit gezwungen sind und daß die Unternehmen Mindestlöhne verweigern, sichert hohe Profite, hemmt aber die volkswirtschaftliche Entwicklung. Zur Steigerung der Binnennachfrage müßten ganz im Gegenteil die Löhne erhöht, die Beschäftigungsverhältnisse gesichert, Mindestlöhne garantiert werden.

Die tariflichen Einkommenserhöhungen der vergangenen vier Jahre blieben nach Angaben des Statistischen Bundesamts hinter der Inflationsrate zurück. Der Konsum der Lohnabhängigen konnte also nicht steigen; zudem wurde er durch Unsicherheiten (vor allem Sorge um den Arbeitsplatz) behindert.

Endlich melden sich die Gewerkschaften zurück und kündigen eine offensive Lohnpolitik an, während die von der Exportwirtschaft dominierten Unternehmerverbände blind für den volkswirtschaftlichen Nutzen sind, den eine Stärkung der Binnennachfrage hätte. Sie sagen immer nur, Lohnerhöhungen würden den Aufschwung gefährden. Sie sollten auf ausländische Stimmen hören, deren Kritik an Deutschland bis zum Vorwurf des Lohndumping reicht. Zitiert sei in diesem Zusammenhang die französische Finanzministerin Lagarde, die in einer Rundfunksendung sagte, »daß sich die Erholung der deutschen Wirtschaft für den Euro-Raum nur auszahlt, wenn die Arbeiter durch Lohnerhöhungen ihren Nutzen davon haben und mehr konsumieren«. Daraus mag Eigeninteresse sprechen. Aber deutsche Niedriglöhne und Exportüberschüsse führen eben zu Ungleichgewichten und Rivalitäten in Europa und weltweit.

Der Druck auf die Lohnabhängigen wächst, auch durch politische »Sparmaßnahmen«. Die Antwort kann nur massiver Gegendruck sein. Wer arbeitet, muß von seiner Arbeit leben können.
Manfred Uesseler


Ein Steuerfahnder berichtet
Wilhelm Schlötterer hat 30 Jahre lang im Finanzministerium des Freistaates Bayern in der Steuerfahndung gearbeitet. Der Mann muß gute Nerven haben. Wegen seiner Hartnäckigkeit beim Aufdecken von Steuervergehen wurde gegen ihn sogar ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Seinen Humor hat er dennoch nicht verloren – auch und gerade deshalb sind seine »Aufzeichnungen« so gut lesbar. Doch der Jurist plaudert nicht etwa nur unterhaltsam aus seinem Nähkästchen. Vielmehr stellt er seine Fachkenntnisse und seine Erfahrungen systematisch dar. Was der Leser in Händen hält, ist ein Lehrbuch über die im Staatsapparat, vor allem in den Justiz- und Finanzministerien wirkenden kriminellen Energien und Praktiken von Machtmißbrauch. Quer durch die Beamtenhierarchien wird der Kampf um »Sein oder Nichtsein« geführt, mit ungleichen Waffen, versteht sich:
»Der Minister kann eine große Schar von Offizieren und Soldaten einsetzen (z.B. Ministerialdirektoren, Abteilungsleiter, Referatsleiter, Pressereferenten und sogar Oberstaatsanwälte). Er muß nicht selbst kämpfen, er läßt kämpfen. Daher ist er weitgehend nicht angreifbar. Der Beamte hingegen muß selbst kämpfen; er hat weder personelle noch finanzielle Ressourcen. Auf Kollegen darf er sich keinesfalls verlassen, sie sind hinsichtlich ihres beruflichen Fortkommens von ihrem Minister abhängig.«

Schlötterer zeigt, wie die Mächtigen persönliche Abhängigkeitsverhältnisse nutzen, um die Gewaltenteilung zu ihren Gunsten auszuhebeln. Feudalismus heute. Wir haben, bei allem Fortschritt, frühere Gesellschaftsformationen nicht hinter uns gelassen oder überwunden. Herrschaftsformen werden im Lauf der Geschichte akkumuliert und stets neu im Dienste der jeweiligen Machtverhältnisse weiterentwickelt. Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens für die Mächtigen!

Die aber, die für Recht und Demokratie streiten, werden mundtot gemacht, Opfer zu Tätern erklärt und um ihre Existenz gebracht, wie Schlötterer mit vielen Beispielen belegt.

Von Zeit zu Zeit fliegen solche Machenschaften auf. Dann staunen wir: Wie werden wir doch belogen. Das perverse Spiel wirkt politisch demoralisierend und führt zu der vielbeklagten und vielbeschworenen »Politikverdrossenheit«. Groß ist deshalb die Verantwortung der in den Medien Tätigen: Sind sie so frei, die Wahrheit zu sagen, oder spielen sie das Spiel mit, die Lüge als Wahrheit zu verkaufen?

Wilhelm Schlötterer dokumentiert Wirtschaftskriminalität als Triebkraft der Regierungspolitik in Bayern. Daß diese Verhältnisse keine bayerische Spezialität sind, zeigt das große Politik-Theater in Berlin.
Gabriele Sprigath
Wilhelm Schlötterer: »Macht und Mißbrauch. Franz Josef Strauß und seine Nachfolger. Aufzeichnungen eines Ministerialbeamten«, Fackelträger-Verlag, 412 Seiten, 22.95 €



Zur Ernüchterung
Als Lothar de Maizière (CDU), letzter Ministerpräsident der DDR, kürzlich anmerkte, die DDR sei »kein vollkommener Rechtsstaat«, aber auch »kein Unrechtsstaat« gewesen, fiel eine Meute von Journalisten und Politikern über ihn her. Gibt es denn keine Möglichkeit, den rechthaberischen, herrschsüchtigen Zensoren das Maul zu stopfen? Nein! Jedenfalls sind sie taub gegen jeden Hinweis auf rechtsstaatliche Defizite der BRD.

Am 3. Oktober vollendet sich das 20. Jahr der staatlichen Einheit. Das Jubiläum wäre Anlaß genug, endlich in sachlichem Ton über DDR und BRD zu reden und sich um Objektivität beim Rückblick auf den Prozeß des Anschlusses der DDR sowie auf die verfehlte Berliner Politik der nachfolgenden zwei Jahrzehnte zu bemühen. Stattdessen war und ist man aggressiver Volksverdummung ausgesetzt. Erforderlich sind Ernüchterungs- und Hygienemittel.

Eines davon ist Hans Frickes Buch »Eine feine Gesellschaft«. Hilfreich ist, daß der Autor gleich zwei Hauptmotive für die verlogene Jubelstimmungsmache von Politik und Massenmedien nennt: Sie soll die Menschen von Krieg, Krise, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, »Hartz IV«, Zerschlagung unserer Sozialsysteme, Armut und Bildungsmangel, kurz: unserer gesamtgesellschaftlichen Misere ablenken. Darüber hinaus dient die BRD-Beweihräucherung einem massiv fälschenden Geschichtsrevisionismus.

Frickes Buch ist ein Beispiel für faktenreich argumentierenden Widerstand gegen die allgegenwärtige Propaganda, mit der einerseits die DDR als abgewirtschafteter, maroder Unrechtsstaat niedergemacht und andererseits die BRD als Hort von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlanständigkeit verherrlicht wird. »Eine feine Gesellschaft« ist ein Angebot, sich mit geleugneten oder verdrängten Vorgängen und Zusammenhängen vertraut zu machen. Das Buch ermutigt dazu, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, um ein zutreffendes Bild von Deutschland zu erhalten. Fricke unterstreicht die Notwendigkeit dazu mit einem Zitat des britischen Feldmarschalls Bernhard L. Montgomery: »Die Geschichtsschreibung ist der zweite Triumph der Sieger über die Besiegten.«
Volker Bräutigam
Hans Fricke: »Eine feine Gesellschaft – Jubiläumsjahre und ihre Tücken – Kritische Betrachtung der ›Wiedervereinigung‹«, GNN-Verlag, 252 Seiten, 15 €


Jahrestagskunst
Die in England lebende Künstlerin Eva Fahle-Clouts hat sich etwas ausgedacht. Sie sammelt in Frankfurt (Oder) und Frankfurt (Main) Küchentische, die sie zu Ehren des 20. Jahrestages des »vereinten Deutschland« in der Friedenskirche von Frankfurt (Oder) zersägen und neu zusammenbauen will. Spender der Tische sollen zusammengeführt werden, denn »beide Seiten haben einander so viel zu geben«. Küchentische zum Beispiel. Also: Deutsche an einen zersägten Tisch!

Herausstellen wird sich ein ostdeutscher Küchentischmangel, weil sich in Plattenbauwohnungen schlecht Küchentische stellen ließen.

Bleibt zu hoffen, daß die betroffene Handwerker-Innung diese Kunst billigt und daß dadurch keine Spendenaktion für die küchentischarmen Länder ausgelöst wird.
Gerhard Hoffmann


Ein Jahrhundertroman
Wer in alten Heften von Siegfried Jacobsohns Schaubühne blättert, stößt ab Jahrgang 1909 immer wieder auf Beiträge Lion Feuchtwangers, in denen mit kritischem Blick das Münchener Theaterleben jener Jahre kommentiert wird. Feuchtwanger, damals ein junger Autor von 25 Jahren, trat aber auch selbst mit Dramen hervor, von denen »Jud Süß«, durch seinen Gegenstand, den skrupellosen Finanzrat des württembergischen Herzogs Karl-Alexander, viel Beachtung fand. Unzufrieden mit dem Drama, begann er den Stoff zu einem historischen Roman auszuweiten, der, als er 1925 erschien, schnell ein Bestseller mit Millionenauflage wurde.

Lion Feuchtwanger traf mit dem Buch einen Nerv der Zeit, den in Deutschland wuchernden Antisemitismus, dem 1922 unter anderem Walter Rathenau durch die präfaschistische Organisation Consul zum Opfer gefallen war. Sein ausladendes Zeitgemälde aus dem frühen 18. Jahrhundert war daher bereits bei Erscheinen mehr als Erinnerung an ein Stück Geschichte. Die Leser faszinierte neben der Handlung, die in alle Schichten der Gesellschaft führte, die expressive Sprachgewalt, die diesen Schriftsteller sogleich in die erste Reihe deutscher Romanciers rückte.

Feuchtwanger, der 1907 über Heinrich Heines Romanfragment »Der Rabbi von Bacherach« promoviert hatte, gab in »Jud Süß« tiefe Einblicke in jüdisches Leben um 1700 – von der Religionsausübung in den oft kleinen Gemeinden bis hin zu den Pogromen, die sie erlitten.

Von der tiefen Wirkung, die der Roman bei seinem Erscheinen auf andere deutsche Schriftsteller hatte, berichtete später Arnold Zweig.

Zur Wirkungsgeschichte des Buches gehört aber auch Veit Harlans antisemitischer Hetzfilm. Schauspieler wie Werner Krauss, Ferdinand Marian und Heinrich George spielten darin Hauptrollen. Feuchtwanger charakterisierte ihr Tun in einem offenen Brief aus dem amerikanischen Exil, in dem er seit 1941 lebte:
»Meine Herren, ich lese im Völkischen Beobachter, daß Sie die Hauptrollen gespielt haben in einem Film ›Jud Süß‹, der in Venedig preisgekrönt worden ist. Der Film zeigt, berichtet das Blatt, das wahre Gesicht des Judentums, seine unheimliche Methodik und vernichtende Zielsetzung ... Kurz, wenn ich da s geschwollene, am Bombast des ›Führers‹ geschulte Geschwafel ins Deutsche übersetzte, dann bedeutet es: Sie haben, meine Herren, aus meinem Roman ›Jud Süß‹ mit Hinzufügung von ein bißchen Tosca einen wüst antisemitischen Hetzfilm im Sinne Streichers und seines Stürmers gemacht.«

Weniger bekannt ist heute, daß Feuchtwangers Buch bereits 1934 von der Gaumont Filmgesellschaft mit dem nach England emigrierten Conrad Veidt in der Hauptrolle verfilmt worden war.

Nach dem zweiten Weltkrieg erschien »Jud Süß« wie alle anderen Bücher Feuchtwangers in hohen Auflagen im Ostberliner Aufbau-Verlag. Zu den in der DDR veröffentlichten Arbeiten zählten übrigens auch viele der eingangs erwähnten Theaterkritiken, die ein kleiner Verlag im thüringischen Rudolstadt 1956 unter dem Titel »Centum Opuscula« erneut herausbrachte.
Dieter Götze


Bob und Suze

»Don’t Think Twice It’s All Right« ist ein bitterböses, aber überaus gelungenes Liebeslied, einer der bekanntesten Songs von Bob Dylan. Es hat eines gemeinsam mit Dylans Liedern »Down the Highway«, »Boots of Spanish Leather« oder »Ballad in Plain D«: Sie alle beziehen sich auf Suze Rotolo, Dylans erste Freundin in New York Anfang der 1960er Jahre. Inzwischen hat Rotolo ein Buch verfaßt, in dem sie ihre Jahre an der Seite von Dylan thematisiert. Es ist 2008 in den USA und jetzt auch in Deutschland erschienen.

Suze Rotolos Eltern waren Kommunisten. Die Mutter war in den 1930ern nach Europa gegangen und hatte als Kurierin mit einer Gruppe junger Kommunisten in Frankreich zusammengearbeitet, die Italienern half, aus dem faschistischen Italien zu fliehen; später wurde sie Redakteurin der Zeitung der italienischen Kommunisten in den USA. Der Vater war bildender Künstler, Fabrikarbeiter, Gewerkschafter. Suze arbeitete nach der Schulzeit zunächst als Büroangestellte. Sie liebte Folkmusik, damals die Musik der Linken. Bei einem Folk-Konzert lernte sie im Juli 1961 Bob Dylan kennen – sie war 17, er 20 Jahre alt. Sie flirteten den ganzen Tag und bald, so Rotolo, »klebten wir wie die Kletten aneinander«. Es sollte eine Liebe für die nächsten vier Jahre sein.

»Bob«, so charakterisiert sie im Buch ihren Freund, »war im allgemeinen schüchtern unter Menschen … Er war ein wenig arrogant, ziemlich paranoid, und er hatte einen wundervollen Sinn für das Absurde ... Wir verstanden uns wirklich gut, auch wenn wir beide nervlich nicht sehr stabil waren ... Aber Bob war auch tough und zielstrebig und hatte ein gesundes Ego …«

Rotolo machte Dylan mit ihrem kulturellen und politischen Background bekannt. Sie zeigte ihm im Museum Picassos »Guernica« und andere Gemälde, wies ihn auf Bert Brecht hin und konfrontierte ihn mit den Themen Sozialismus und »american way of life«.

Zu Spannungen kam es, wie sie berichtet, durch Dylans gelegentliche Art, die Wahrheit zu verschweigen. So erzählte er die traurige Story, er sei in jungen Jahren in New Mexico von seinen Eltern verlassen worden und habe anschließend bei einem Wanderzirkus gelebt (in Wirklichkeit war er der Sohn eines Möbel- und Elektrogerätehändlers in Duluth/Minnesota). Daß er eigentlich Robert Zimmerman hieß, fand Suze erst heraus, als sie zufällig seinen Wehrpaß fand. Ihre Mutter hielt überhaupt nichts von Dylan. Sie hatte sofort den Verdacht, daß seine Geschichten erfunden waren. Er brachte ihr keinen Respekt entgegen und sie ihm auch nicht. Mehr noch, um ihre Tochter von Dylan loszueisen, überredete sie Suze, sich an einer Kunstschule in Italien einzuschreiben, wo sie sieben Monate blieb. Dylan schrieb in dieser Zeit neben inbrünstigen Liebesbriefen mehrere Songs über sie.

Auf dem Cover seines zweiten Albums »The Freewheelin’ Bob Dylan« sieht man ihn mit Suze eng umschlungen an einem kalten Wintertag. Mit diesem Album kam der erste große Ruhm, bei Konzerten tobten die Menschen und bereiteten ihm stehende Ovationen. Die Vorstellung aber, ihrem berühmten Freund nun dienen zu sollen, ging Suze gegen den Strich. »Ich wollte nicht ein paar Schritte hinter ihm gehen und das Bonbonpapier aufheben müssen, das er wegwarf.« Im August 1963 zog sie aus Bobs Wohnung aus, weil sie mit dem Tratsch (Dylan hatte auch ein Verhältnis mit Joan Baez), den Lügen und der Wahrheit nicht klarkam. Die Beziehung ging allerdings noch eine Weile weiter.

Suze Rotolo meint, die »alten Linken« hätten in Bob Dylan ihren neuen Sänger gesehen, der ihren heldenhaften Weg – den von Woody Guthrie und Pete Seeger – weiter gehen sollte. Dylan aber »hörte zu, nahm alles in sich auf, zollte Respekt und ging dann fort… Er wollte die Fackel, die sie an ihn weiterzureichen versuchten, nicht annehmen.«
Thomas Grossman
Suze Rotolo: »Als sich die Zeiten zu ändern begannen. Erinnerungen an Greenwich Village«, Übers. von Paul Lukas, Parthas Verlag, 376 Seiten, 24 €


Press-Kohl
Eine Buchversand-Firma in Koblenz versorgt auch unsere kleine Familie regelmäßig mit dem »Rhenania Bücher Kompaß«. Die letzte Folge wirkte besonders verführerisch, weil sie nicht nur »Die allerbesten Stammtischwitze« anbot, »304 S., flexibler Einband. Von harmlos bis gepfeffert. Zum Schmökern, Lachen und Weitererzählen«, sondern auch das meiner Vermutung nach unentbehrliche Handbuch »Wir sterben nie. 240 S. 12 x 19 cm. Nur 9,95 Euro«.

Schon lange ahnte ich, daß wir wahrscheinlich nie sterben. Das trifft mit Sicherheit auf unseren Onkel Arminhard zu, der von allen, die ihn kennenlernen mußten, »der tönende Pschyrembel« oder »das endlos sprechende Klinische Wörterbuch« genannt wird.

Der Autor des Sterbe-Lesebuchs verrät uns, »was wir heute über das Jenseits wissen können«, nämlich: »Wir sterben nie, und das Jenseits existiert wirklich! Die neuen Erkenntnisse der Sterbeforschung belegen eindeutig, daß jeder von uns unsterblich ist. Bernhard Jakoby faßt erstmalig die sensationellen Einsichten der Sterbeforschung zusammen: ein praktisches Buch aus der Fülle der neuen Erkenntnisse über das Leben nach dem Tod.«

Wer an das Leben nach dem Tode denkt, sollte auch das Lesen nach dem Tode nicht vergessen und sich mit den oben erwähnten besten Stammtischwitzen ausrüsten, zu denen man auch die neueste Publikation des Herrn Th. Sarrazin rechnen darf, welche sich ebenfalls zum Schmökern, Lachen und Weitererzählen eignet. Der »Rhenania Bücher Kompaß« preist auch andere Artikel an, die in posthumer Existenz brauchbar sein dürften: 1. »In Stahlgewittern« vom berühmten Überlebenskünstler Ernst Jünger (24,90); 2. Das nostalgische »nach historischem Vorbild gefertigte Blechschild Deutsches Schutzgebiet (Material Blech, gewölbt mit vorgebogenen Löchern«; 3. Die »Wehrmachts-Dienstuhr. Originale Nachbildung einer Dienstuhr der Deutschen Wehrmacht. Auf der Rückseite trägt sie eine Dienstnummer. Nur 99 Euro! Bis 5 ATM wasserdicht«, was die ertrunkenen Dienst-uhrträger interessieren könnte; 4. im Prospekt-Kapitel »schöne Dinge« empfohlen: »Wehrmachts-Feldmütze M 43. Mannschaftsausführung: Heer. Nur 29,95!«

Motto, frei nach Werner Finck: Mütze ab, Helm auf!
Felix Mantel