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Titel1915

Betrachtungen eines Kalenderdichters  (Matthias Biskupek)

Für Kalendertexte muss man weit vorausschauen und zurückblicken. Denn Kalender werden trotz heutiger moderner Technik etwa zwei Jahre im Voraus konzipiert und erarbeitet. Selbstverständlich gibt es auch Kalender, die nur die Vergangenheit im Blick haben; einen solchen texte ich seit einigen Jahren. Er heißt »Trabi, Broiler, Pioniere«, untertitelt »Eine Reise durch die DDR«. Für jede Woche gibt es ein Bild, zu dem ich einen kurzen Text zu machen habe, sieben bis acht Zeilen, nach heutigem Verständnis 480 Zeichen (mit Leerzeichen).


Den siebenten Kalender dieser Art habe ich soeben abgeliefert (für 2017) und somit bislang insgesamt rund 360 Bildkurzbeschreibungen über das nun schon sehr entlegene Land gefertigt. Der Verlag sitzt in Dortmund, von dort erhalte ich auch die vorgeschlagenen Bilder. Manchmal vergreift man sich, da wird mir die Tarantel als satirische DDR-Zeitung angeboten, die aber, im Stil der Zeit formuliert, eine »Hetzzeitung aus der Frontstadt Westberlin« war. Oder ich soll zu einem Foto von NVA-Pionieren etwas über Bausoldaten machen – was, wie man, also der Ost-Kenner, weiß, ein Unterschied war. Die Soldaten mit dem Spaten auf dem Schulterstück verweigerten »den Dienst mit der Waffe«, kein Wehrersatzdienst, sondern ein Waffenersatzdienst, einzigartig im gesamten Ostblock.


Im Allgemeinen aber sind es Konsumgüter, bekannte DDR-Künstler, Fußballmannschaften, Losungen oder Reklamebildchen, die ich zu betexten habe. Nun hat man mich für diese Arbeit vielleicht ausgewählt, weil man mir eine gute Erinnerung zutraut. Immerhin habe ich etwa 37 der 40 DDR-Jahre bewusst erlebt. Doch jeder weiß, wie das Gedächtnis trügen kann. Also schlage ich nach.


Früher hätte ich dafür Stapel alter Lexika, Kochbücher, DDR-Zeitschriften, Tonbänder und womöglich persönliche Erinnerungsstücke benötigt. Heutzutage habe ich das Netz. Da sind nicht nur die Ampelmännchen abgebildet und die Blusen der 1950er, da stehen auch Gesetzes- und Liedtexte, man sieht, wie ein Ausreiseantrag aussah und wie ein junges Ehepaar in die Sonne blickt bei der sozialistischen Eheschließung.


Durch derlei Suche bin ich also nicht nur ganz gut im Bilde – wörtlich – über das versunkene Land, ich weiß auch, was heute über jene Zeit geschrieben, gedacht, verbreitet wird. Denn die Schlagwortsuche öffnet zunächst eine erste Seite mit den heute gängigen Wahrheiten. Oder es kommt eine näheres Bestimmungswort. Gibt man DDR ST ein, kommen Staubsauger, Sturmgewehr, Stuhl und Stasi. Bei DDR Ministerium kommt natürlich sofort die Staatssicherheit.


Doch auch das via Wikipedia verbreitete, anscheinend feststehende Wissen lässt immer wieder stutzen. Ich suche Das Magazin, eine bis heute existierende, einst ungeheuer beliebte Zeitschrift: »Das Magazin war etwas Besonderes, weil darin erotische Themen in Wort und Bild relativ freizügig behandelt wurden.« Nun war die Zeitschrift in der Tat wegen »der Naggschen« beliebt, nicht nur – aber man hat doch den Eindruck, dass die DDR ansonsten wohl prüde und spießig gewesen sein muss. Vergleicht man dies aber mit der muffigen Adenauer-Republik der 1950er und ersten Hälfte der 1960er Jahre wird das Bild schon anders.


Die DDR hingegen bekommt immer ihren Ewigkeitsstempel. Da wurden Schwule verfolgt, da war Karl May verboten, und da gab es keine Comics, weil als westlich verschrien. Jazz war Negermusik und das Hauptnahrungsmittel hieß Soljanka …


Aber wir waren beim Magazin stehen geblieben, finden folglich schnell jenen Künstler, der in Magazin-Titelblättern immer einen Kater versteckte. Was steht über jenen Werner Klemke gleich vorne im Netz? »Seine Arbeiten waren bekannt in den engen Grenzen der DDR, die einer angemessenen Verbreitung seiner Arbeiten im Wege standen. Zwar erschienen sie auch im Westen, erreichten aber nicht annähernd die Verbreitung wie in der DDR.« Dass dies vielleicht Schuld eines buchkunstunfähigen Westens war, darf einem gar nicht in den Sinn kommen – das muss an den DDR-Grenzen liegen, »den engen Grenzen«, die natürlich jede Verbreitung boykottierten.


Ein paar Wahrheiten haben sich inzwischen durchgesetzt, dass zum Beispiel »Über sieben Brücken musst du gehn«, nicht von Peter Maffay stammt, sondern von »Karat«, der Text in Leipzig verfasst und der Titel in Berlin-Grünau produziert wurde. Ganz stolz ist ein jeder Westdeutsche, wenn er weiß, dass »Broiler« die DDR-Bezeichnung für Wienerwald-Hähnchen war, obwohl doch der Wienerwald in der DDR verboten war.


Sucht man beispielsweise KIM, so findet man Kim Kardashian, Kim Jong Un und, wenn es historisch wird, Kim Novak. Gibt man KIM DDR ein, wird einem Kim Fisher vorgeschlagen, die erkennbar nicht aus der DDR stammt, obwohl sie im MDR-Fernsehen gern so tut. Irgendwann aber findet man, dass es mal ein »Kombinat Industrielle Mast« gab, zu Werbezwecken »Köstlich Immer Marktfrisch« geheißen, was uns dann wiederum zum Broiler führt – den hatten wir schon.


Noch interessanter wird es, wer alles mit dem Zusatz »des Ostens« gekennzeichnet wird. Da wird eben Siegfried Schnabl mit seinem millionenfach verlegten Aufklärungsbuch »Mann und Frau intim« als Oswalt Kolle des Ostens bezeichnet. Täve Schur ist der Rudi Altig des Ostens, doch bei den Sportlern insgesamt wird es schwierig. Wen könnte man für die Olympiasieger Roland Matthes (Rückenschwimmen), Wolfgang Nordwig (Stabhochsprung) oder Waldemar Cierpinski (Marathon) im Westen finden? Bleiben wir bei anderen Prominenten und verkehren es einfach: Gerhard Löwenthal war der Karl-Eduard von Schnitzler des Westens und Adenauer der Ulbricht des Westens.


Andererseits erklärt mir das Netz immer gern, was alles in der DDR verboten war. Weihnachten! Streng in der Öffentlichkeit verboten! Man musste Weihnachtsengel bekanntlich »Geflügelte Jahresendfiguren« nennen, und wer dem nicht entsprach, kam ins Gefängnis oder wenigstens unter strenge Stasi-Beobachtung.
Dabei ist die gegenwärtig in den USA praktizierte Methode, aus Gründen der politischen Korrektheit nicht mehr Weihnachtsgrüße zu versenden, sondern »Season‘s greetings« – schließlich könnten sich die Freunde von Chanukka, Newroz und Ramadan diskriminiert fühlen – ein später Sieg deutscher demokratischer Säkularisation. Eine Epoche muss nur lange genug verstrichen sein, bis sie wieder aufleben darf. Von der DDR lernen heißt heute siegen lernen!