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Titel0212

Wer zeichnet noch?  (Harald Kretzschmar)

Zur Zeit bilden wir uns viel darauf ein, wie beschlagen wir mit Informationen aller Art sind. Wir wissen halt Bescheid! Gleichzeitig verwirrt uns ein vielfarbiges Spektrum vorfabrizierter Meinungen und Deutungen. Das macht uns unsicher, ja fast angstvoll. Statt klipp und klar zu formulieren, wird diffus über Befindlichkeiten räsoniert. Wenn die gesprochenen Worte weitgehend unbestimmt bleiben, wie sieht es dann mit den schriftlichen Zeichen aus?

Da die Graphologie sich mit ihren Expertisen zu Bewertungsverfahren für Jobübernahmen hat mißbrauchen lassen, ist sie als angebliche Pseudowissenschaft abqualifiziert. Dabei könnte sie über zunehmend weniger ausgeprägte individuelle, weil maschinell angeglichene Handschriften Auskunft geben.

Und wie steht es mit Zeichnungen?

Soweit sie sachlicher Naturwiedergabe dienen, bleiben sie neutral. Aussagekräftiger sind Zeichnungen, wenn individuelle Ausdrucksweisen erkennbar werden. Zeichnen birgt die Chance in sich, geradezu seismographisch Umwelteinflüsse aufzunehmen und zu interpretieren, Mensch und Welt sicht- und begreifbar zu machen.

Aber das negiert der Zeitgeist. Ein auf irrelevante Abstrakta und karge Minimalismen eingeschworener Kunstbegriff agiert fast im luftleeren Raum. Alles, was auf die gesellschaftliche Praxis orientiert, ist dagegen von geradezu opportunistisch billiger Oberflächlichkeit geprägt. Die Werbeästhetik wirkt auf knallbunt schönfärberische Weise naturalistisch. Da muß jede grafische Zeichensetzung als Durchschnittsverbrauchern unzumutbares Abstrahieren in Frage gestellt werden.

Wer sich Realität zeichnerisch aneignet, entwickelt eine graphische Bildsprache. Die ist vergleichbar mit Metaphern in der Dichtung. In der künstlerischen Ausbildung wird dieses elementare Lebensprinzip aber systematisch negiert. Man lernt nicht mehr zeichnen.

Vielmehr ist die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit inzwischen auf einen in allen Regenbogenfarben schillernden Abglanz fixiert. Wer immer sich bildkünstlerisch bemüht, tut das zu 90 Prozent malend. Da wird getrickst und geschummelt mit Farbeffekten, daß einem die Augen übergehen. Da muß eine lediglich aufs Schwarzweiß angelegte Zeichensprache als dürftig und ärmlich angesehen werden. Wo gibt es noch Ausstellungen mit charaktervoller graphisch schwarzer Formgebung?

Unsere Buntsucht wird inzwischen schon ideologisch verbrämt, wenn wir unentwegt die Mär von der durch und durch grauen, also grauenvollen DDR zu hören bekommen. Folgerichtig sind inzwischen Schwarzweißfotos und ebensolche Filme als unvollkommen angesehen. »Unmodern« heißt das Urteil. Unsere Zeitungen färben unsere Wahrnehmung nun sogar bis in die bislang knapp pointierende Karikatur hinein buntscheckig. Bei soviel Zeichenangst verkümmern analytisches Denken und witziger Geist in der Farbenfalle.