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Titel216

Die Kälte des Schnees  (Wolfgang Eckert)

»Ja, wir sind allein, und immer erwartet uns nichts anderes als eine weitere, noch dickere Schicht Einsamkeit.« Dieser Satz Philip Roths in dem von Werner Schmitz übersetzten Band »Amerikanisches Idyll« steht wie ein Denkmal der Trostlosigkeit über Rolf Lapperts neuem Roman »Über den Winter«. Der Schweizer Autor legt nach seinen großartigen Romanen »Nach Hause schwimmen« und »Auf den Inseln des letzten Lichts« sowie dem Jugendbuch »Pampa Blues« im Hanser Verlag sein viertes Buch vor – nach vier Romanen und zwei Lyrikbänden bei Schweizer Verlagen. Lapperts epische Erzählkraft und sein Ideenreichtum dürften es gewesen sein, die ihn 2014 und 2015 unter die Aspiranten für den Deutschen Buchpreis brachten. Er erhielt ihn nicht, dafür aber den Schweizer Buchpreis.

Lapperts Prosa atmet. Man sieht, hört, schmeckt und riecht das alltägliche Leben. In Lapperts »Über den Winter« liegt die Kälte jener Jahreszeit wie ein Mantel. Der Norden Deutschlands, Wilhelmsburg, Hamburg, die langsam zufrierende Alster sind die Landschaft, in der Lapperts Figuren zu überleben versuchen. Lennard Salm, auf das halbe Jahrhundert seines Lebens zugehend, ist als Künstler der Vertreter einer eigenwilligen Art unter seinesgleichen. Von zurückliegenden gefeierten Ausstellungserfolgen materiell existierend und gefördert durch den Galeristen Wieland, kann er im bescheidenen Maße leben. Er bereitet eine neue Ausstellung vor: An den Strand gespültes Gut. Beim fleißigen Sammeln macht er eines Tages eine schreckliche Entdeckung. Diese lässt ihn nicht mehr los, lässt ihn, allmählich zwar, über sein Dasein nachdenken, über den Sinn seines Tuns und auch über die Abhängigkeit von Kunst und deren Ausübung. Der Tod seiner Schwester Helene führt ihn langsam zu seiner Familie zurück, zur exzentrischen und Cannabis rauchenden und Schutz suchenden Schwester Bille, zum Bruder Paul, zum Vater Albert, den seine Frau verließ und der von Bascha, einer Polin, liebevoll versorgt wird.


Salm kehrt in das Haus seiner Kindheit zurück, die alt gewordenen Mieter sehen ihn als gestandenen Mann. Lappert erzählt die Schwierigkeiten dieser Rückkehr, erzählt vom Tod und vom Alleinsein, vom gebrochenen Verhältnis Salms zur Mutter. Es ist kein Buch für schnelle Leser. Im Detail, manchmal hemmen zu viele die Handlung, offenbart sich die ganze Ziellosigkeit einer Gesellschaft, die Vereinsamung des Einzelnen, der sich in der Kälte des Winters nach Wärme sehnt und über ihn hinweg kommen möchte wie auch immer. In Lennard Salm zeigt sich diese ganze Tragik. Von Grund auf gut und mit einem Herzen für die Einsamen, Armen braucht Salm selber Zuwendung und versucht sich durch äußere und innere Unruhe dagegen zu wehren. Er trinkt viel, sitzt oft in Bistros, Kneipen, vergisst alles Mögliche, Handy, Tasche, Mütze, fröstelt und friert ständig, gönnt sich wenig Schlaf, hat ein Gefühl für alte Leute, aber auch für den Jungen Lorenz, Sohn getrennt lebender Eltern, und hofft in dessen Mutter Nadja Liebe, Wärme zu finden.


In einem Stall des Hofes steht das ausgesetzte Pferd Xena. Lennard versorgt es mit Heu, Stroh und Hafer, päppelt es auf. Das Pferd wird zu einem Symbol des Ausgeliefertseins. Indem sich Salm kümmert, sich sorgt, richtet er sich selber auf. Vielleicht sieht er sich in seinem Vater wieder, der einst mit viel Geist begabt und belesen über die Vulkane der Welt war, nun im Rollstuhl sitzt und Kreuzworträtsel löst. Die Rückkehr Salms in den Kreis seiner Familie ist auch gleichzeitig ein Rückzug. Es steht die Frage nach dem Sinn des Lebens, die der Schriftsteller Erwin Strittmatter einst so beantwortete: Der Sinn des Lebens besteht darin, hinter den Sinn des Lebens zu kommen. Vulkane können die kalte Welt nicht erwärmen, eher verschütten, und Kreuzworträtsel lenken höchstens ab, führen oft in eine Welt, in der Salm einst gewesen war. In dem Haus, das er nun bewohnt, zieht der Tod ein, werden viele Wohnungen leer, sie stehen kalt, auch das Haus soll verkauft werden, immer ist da ein Frieren, leise fällt Schnee. Man beginnt mit Salm zu frösteln, sehnt sich wie er nach einem warmen Bad, nach Freundlichkeit. Nein, Lappert bedient nicht ein Bedürfnis, sich lesend in eine rosige Zeit zu träumen. War das Buch deshalb nicht reif für einen deutschen Buchpreis? Die Menschen in seinem Buch tun viel Nutzloses, Überflüssiges. Sie erleben Gewalt, die zur Alltäglichkeit geworden ist. Immer ist da auch im Hintergrund Musik, klassische wie moderne. Als müsse sie Trost bringen, Halt in diesem nicht endenden Winter. Aber Lapperts Menschen bewegen sich darin, sie gehen einem ans Herz, sie bewegen und setzen selber in Bewegung. Dass man vielleicht in dieser kalten Welt etwas Gutes tun sollte.

Rolf Lappert: »Über den Winter«, Hanser Verlag, 384 Seiten, 22,90 €