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Titel217

Seltsamer Geburtstag mit Bubis und Herzog  (Otto Köhler)

Es ist der 9. Januar, eine Viertelstunde vor Mitternacht. Ein ARD-Film über das Land, in dem ich seit 81 Jahren lebe, wird mich ins nächste, ins 82. Lebensjahr begleiten: »Bubis – Das letzte Gespräch«. Auf dem Bildschirm, das Dunkel der Nacht im August 1992, Rufe schwellen an, die erste große Flüchtlingsdebatte nimmt ihre Gestalt an: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus. In Rostock-Lichtenhagen lodern die Flammen empor. An Häusern, in denen Flüchtlinge wohnen, die verbrannt werden sollen. Die unzweifelhaft deutsche Polizei hat sich bereits diskret zurückgezogen.

 

Schnitt, der Nachrichtensprecher der Tagesschau: »Mit einem Eklat endete heute der Rostock-Besuch einer Delegation des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Vorsitzende des Innenausschusses der Rostocker Bürgerschaft, der CDU-Abgeordnete Schmidt, sagte auf einer Pressekonferenz dem Zentralratsvorsitzenden Bubis, seine Heimat sei Israel.

 

Die Absicht dieses Vertreters der Christenheit war klar: Der Deutsche Ignatz Bubis wird als Ausländer abgestempelt, weil er Jude ist.

 

Schnitt. Mitternacht ist vorbei. Seit nunmehr 82 Jahren bin ich unzweifelhaft Deutscher. Auf dem Bildschirm entsteigt Bundespräsident Herzog vor der Paulskirche seinem Wagen, es ist der 11. Oktober 1998, im neunten Jahr nach dem Mauerfall. Drinnen am Rednerpult Martin Walser. Er hält seine, ja, Friedenspreisrede: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.« Beifall. In der ersten Reihe sitzen erstarrt Ignatz Bubis und seine Frau. Walser macht weiter: »Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien ein ganz normales Volk.« Er entdeckt, dass sich »in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande wehrt«. Wehrt gegen die »Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«. Da bricht stürmischer Beifall aus, allen voran, kräftig in die Hände schlagend, Roman Herzog, vergnügt tuschelt er zu seiner Frau, sie lächelt verständnisinnig zurück. Kameraschwenk zu den beiden Juden in der ersten Reihe: Ignatz Bubis und seine Frau, sie sitzen noch immer wie betäubt. Sie sind die einzigen in der Paulskirche, die nicht applaudieren, die einzigen, die sich am Ende nicht erheben zu Ehren des Mannes, der sich endlich gegen die Juden wehrt. Und Roman Herzog – wieder im Bild – klatscht und klatscht, froh, spricht dabei etwas. Sagte er, der hat‘s denen aber gegeben? Rostock ist überall. Auch in der Paulskirche.

 

Diesen Film, diese Wiedererweckung der Deutschen, konnte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, der so freudig dabei war, nicht mehr sehen. Da kämpfte er schon mit dem Tod. Er stirbt noch in dieser Nacht, in den ersten Stunden des 10. Januar.

 

Roman Herzog war nur wenige Monate älter als ich. Und er kannte mich seit 59 Jahren. Am 12. Februar 1958 stellte er als Assistent des großen Nazi-Juristen Theodor Maunz, der schon 1934 den »inhaltlichen Wandel des Begriffes eines ›unbescholtenen Lebenswandels‹  einer deutschen Frau, die einen Juden geheiratet hat« als »begrüßenswertes Ergebnis« wertete, für diesen Maunz also, stellte Herzog Entlastungsmaterial zusammen, das er schleunigst in einem Volkswagen nach Würzburg schickte. Dort hatte ich als örtlicher Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in der Vollversammlung der Studentenschaft einen Misstrauensantrag gegen unseren neuen Kultusminister Theodor Maunz eingebracht.

 

Die Korporierten hielten lange Reden, um eine Abstimmung aufzuhalten, bis Herzogs Entlastungmaterial eintraf: Maunz habe vielen Juden geholfen, und der sozialdemokratische Kronjurist Adolf Arndt habe ihm zu seiner Amtsübernahme gratuliert. Mein Antrag wurde abgelehnt und die bayerische SPD distanzierte sich von dieser »neuen Aktion politischer Archäologie« und verlangte erst vier Jahre später den Rücktritt von Maunz. Der widmete sich nun zusammen mit seinem Schüler Herzog schaffensfroh der Auslegung unserer Verfassung. Sie schufen den – wie es immer noch heißt – »herrschenden« Kommentar zum Grundgesetz. Und Herzog war es, der in diesem Kommentar, der allüberall im nunmehr längst vereinten Deutschland der Rechtsprechung zugrunde liegt, den Artikel 139 eliminierte. Dieser Artikel sieht – er sah – die Weitergeltung der »zur ›Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‹  erlassenen Rechtsvorschriften« vor. Herzog befand schlicht: Dieser Artikel sei heute »obsolet«. Veraltet, nicht in die Zeit passend. Herzog wurde Innenminister, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Bundespräsident. Repräsentant von uns allen, für die eine Befreiung von den Nazis obsolet sein muss.

 

Ich ging zu Bett und schlief, nach einiger Zeit.