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Titel218

Gott verteilte Flugblätter  (Monika Köhler)

Es war einmal im Jahr 1917 – eine weitere Kriegsweihnacht stand bevor. Spät am Nachmittag des 24. Dezembers geschah etwas Seltsames. Ein alter Mann verteilte Flugblätter auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Eine Einladung? Nein, eine Erinnerung. Da hieß es: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Und darunter die – bekannten – zehn Gebote. Das konnte nicht gutgehen. Schutzleute ergriffen ihn, und vom Oberkommando des Militärs wurde er erschossen – standrechtlich. Dieser alte Mann war kein Narr. Es war der liebe Gott. Wer hat ihn erkannt? Einige Menschen lasen die Flugblätter und verteidigten diese Thesen – sie wurden ins Irrenhaus gesperrt.

 

Das ist ein Märchen mit traurigem Ende. Geschrieben wurde es von einem »Märchenprinzen« an einem romantisch-heimeligen Ort: Worpswede. Der Prinz war Maler, man kannte ihn. Aber er war auch Unteroffizier in diesem Krieg, zu dem er sich gleich zu Beginn, mit 42 Jahren, freiwillig gemeldet hatte. Diese Geschichte, mit Fortsetzungen, steht in einem Buch von Bernd Stenzig: »Das Märchen vom lieben Gott – Heinrich Vogelers Friedensappell an den Kaiser im Januar 1918« (Donat Verlag, 120 Seiten, 14,80 €).

 

Das »Märchen« des Maler-Unteroffiziers ging weiter mit der Überschrift: »Gott ist tot«. Auch die großen Feldherrn waren nach Berlin gekommen, »mit der festen Absicht, durch Wort und Tat die Welt von Elend und Blut zu erlösen«. Das glaubte der Maler. Die hohen Herren kamen mit den Vertretern der Friedenskonferenz zusammen (zu den Verhandlungen über einen Separatfrieden von Brest-Litowsk). Vogeler schrieb im Märchen, das nun Wirklichkeit geworden war: »Sie kamen überein, die Welt mit dem Schwerte in der Hand vor sich in die Knie zu zwingen, erhoben sich selber zum bluttriefenden Götzen …« Da war er wieder, der totgeglaubte Alte vom Potsdamer Platz, mitten unter ihnen, wies stumm auf die zehn Gebote. Keine Reaktion, auch als er sagte, wer er sei. Schließlich: »Der Kaiser und die Feldherrn führten seinen Namen in ihren Telegrammen, die Krieger trugen ihn auf dem Bauche, die Feldprediger hatten die schwersten Verbrechen der Menschheit durch seinen Namen geheiligt.« Gott sah, dass man ihn gar nicht kennen wollte. Aus der Uniform »glotzte das goldene Kalb und beherrschte die Welt«. Gott ging weg von dieser Friedensversammlung, machte den »ordensbesternten Götzen Platz«, denn »Gott will nicht siegen«.

 

Die Feldherrn-»Götzen« taten, was sie gewohnheitsmäßig tun, sie »führten das Volk immer tiefer ins Elend und erweckten weiter Hass, Bitternis, Zerstörung und Tod«. Nur noch die »blechernen Schmucksterne und Kreuze« blieben, und »das gestohlene Gut« verschenkten sie »ihren Völkern«. Gott ging zu denen, die gelitten hatten unter »Hass und Lüge«. Und Gott wies auf sich: »Es gibt über eurem Fahneneid meine ewigen Gesetze«, über ihrem Hass: die Liebe.

 

Und wieder das Märchen: Die Krüppel gaben ihre »blutstinkenden grauen Kleider, ihre Orden und Ehrenzeichen zurück an den Gott des Mammons«. Und – schon die Revolution? Sie gingen »unter das Volk und entheiligten die Mordwaffen und vernichteten sie«. Gott ging zum Obersten, dem Kaiser, sprach ihn direkt an: »Du bist Sklave des Scheins. Werde Herr des Lichtes.« Und Gott redete in salbungsvollen christlichen Worten: »Sei Friedensfürst.« Aber auch: »Sei der Menschheit Führer.« Und immer wieder: »Wahrheit anstatt Lüge.« Ein Aufruf: »In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser« und: »Habe die Kraft des Dienens – Kaiser!«

 

Am 20. und 23. Januar 1918 schreibt Heinrich Vogeler diesen Brief – nachträglich von ihm Märchen genannt –, der an Kaiser Wilhelm II. gerichtet ist, und einen weiteren an die Oberste Heeresleitung, an Hindenburg und Ludendorff. Er protestiert gegen den Eroberungskrieg, gegen die Lüge vom »Verteidigungskrieg«. Die »Friedensverhandlungen« in Brest-Litowsk sind noch nicht abgeschlossen. Wie kommt dieser Maler des Schönen, der die Schrecken des Krieges aussparte, der in Briefen darüber schreibt, dass seine Zeichnungen »unbeabsichtigt« so wirken, »als stellten sie in diesen Wüsten immer eine kleine Heimat dar«, wie kommt er zu dieser – christlich geprägten – Radikalität? Glaubt er, den Kaiser umstimmen zu können? Er liebt ihn ja, ist immer noch Monarchist und hält die Revolution für gefährlich. Er rechnet damit, – wie Gott – erschossen zu werden. Ihn kann tatsächlich nur das inständige Bitten des Grafen von der Schulenburg, Adjutant von Ludendorff, vor der Hinrichtung retten: der Hinweis, dass es sich um einen sehr bekannten Künstler handele. »Geistig verwirrt«, darauf einigt man sich. So kommt Vogeler zwar nicht in die berüchtigte Irrenanstalt bei Bremen, aber unter Beobachtung. Für ihn, die Rettung. Die angeordnete polizeiliche Überwachung obliegt dem harmlosen Dorfgendarm Wittfogel.

 

Wie kam es, dass der Unteroffizier Vogeler Urlaub bekam? Er hatte sich an einer Ausschreibung beteiligt: Plakat-Entwürfe für die achte Kriegsanleihe. Was er lieferte, es überzeugte seinen Major nicht so recht. Sein Plakat-Motiv – eine Bauersfrau in Holzpantinen und mit Spaten – sollte er nach »lebendem Modell« überarbeiten. Der Text neben ihr: »Die Heimat ruft!« Oben und unten: »Zeichnet Kriegsanleihe«. Die Heimat – nicht das Schlachtfeld. Vogeler kehrte dorthin nicht zurück. Er begriff nun nicht mehr, wie er drei Orden hatte bekommen können, darunter die »Österreichische Tapferkeitsmedaille«. Jetzt hieß es immerhin, er sei nicht »gemeingefährlich«, aber »dauernd kriegsuntauglich«. Ihm wurde – welch ein Glück – das »Dienstunbrauchbarkeitszeugnis« ausgestellt. Nun konnte er sich wieder der Kunst widmen. Und bald auch ganz anderen Ideen, nachdem man ihn in die Beobachtungsstelle für Geisteskranke gesteckt hatte, wo er – wie es die Vossische Zeitung 1932 zu seinem 60. Geburtstag zu erkennen meinte – »radikalen Linksideen in die Arme getrieben« wurde.

 

Den Werdegang Vogelers nach den Schreiben an den Kaiser und die Oberste Heeresleitung zeichnet Bernd Stenzig in seinem Buch minutiös nach. Selbst in den Anmerkungen sind manchmal Tragödien versteckt. Die Abbildungen dokumentieren Vogelers Wandel, politisch und künstlerisch. Dass er den »Kaiserbrief« später als »revolutionär« umdeutete, half ihm in der Sowjetunion, in der er – aus Überzeugung – seit 1931 lebte und arbeitete, bis er in Kasachstan 1942 elend starb. Hilfsgelder von Schriftstellern erreichten ihn zu spät.