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Titel2008

Reichstagsbrandstiftung – Der Sündenbock  (Wilfried Kugel)

Vor 75 Jahren, vom 20. September bis zum 23. Dezember 1933, fand vor dem Reichsgericht der Reichstagsbrandprozeß statt. Angeklagt waren drei bulgarische Kommunisten (unter ihnen Georgi Dimitroff), der Fraktionsvorsitzende der KPD im Reichstag, Ernst Torgler, sowie der gerade 24jährige, deutlich verwirrte holländische Anhänger des Räte-Kommunismus, Marinus van der Lubbe.

Dem Prozeß waren mehr als ein halbes Jahr lange Ermittlungen einer eigens gebildeten Reichstagsbrandkommission vorangegangen – mit der Nazi-Vorgabe, kommunistische Täter zu ermitteln. Das konnte nicht gelingen. Die drei Bulgaren mußten freigesprochen werden.

Torgler, der sich freiwillig gestellt hatte, wurde überraschend von Nazi-Anwalt Dr. Alfons Sack verteidigt, der Anfang August 1933 das Mandat auf Wunsch des Reichsjustizministers Franz Gürtner unter der Zusage übernommen hatte, sein Mandant würde freigesprochen, was auch geschah. Allein dieses Faktum belegt, daß es sich beim Reichstagsbrandprozeß von Anfang an nicht um ein rechtsstaatliches Verfahren handelte. Nach seinem Freispruch arbeitete Torgler bis 1945 für die Nazis. Im Oktober 1935 wurde er aus der KPD ausgeschlossen.

Sündenbock Marinus van der Lubbe wurde am Abend des 27. Februar 1933 ungefähr zwischen 21.22 und 21.23 Uhr im brennenden Reichstagsgebäude aufgegriffen. Wie er dorthin gelangte, blieb bis heute ein Rätsel. Laut Anklage war er an der westlichen Fassade des Gebäudes rechts neben dem Hauptportal hochgeklettert und hatte um ca. 21.08 Uhr die acht Millimeter starken oberen Glas-Doppelscheiben des ersten Fensters (von links) des Restaurants im Hauptgeschoß mit den Füßen eingetreten. Doch dieses Fenster war viel bequemer über den Sims von der Freitreppe aus zu erreichen, denn das Hauptportal war bereits seit 19 Uhr geschlossen, das Gebäude nicht besonders bewacht. Von dem angeblich durch van der Lubbe eingetretenen Fenster gibt es in den Ermittlungsakten kein einziges Foto. Eine Spurensicherung an den Fenstern war nicht möglich, denn gleich am Morgen nach dem Brand waren neue Scheiben eingesetzt und der Schutt vor den Fenstern zusammengekehrt worden.

Der zuerst alarmierte Löschzug 6 der Berliner Feuerwehr traf etwa um 21.18 Uhr am Hauptportal ein. Da die Tür verschlossen war, schlug Oberbrandmeister Emil Puhle im Hauptgeschoß mit der Axt die Scheiben des zweiten Doppelfensters (von links) des Restaurants ein, obwohl das direkt daneben liegende erste Fenster von van der Lubbe bereits um 21.08 Uhr eingeschlagen worden sein soll. Das bereits eingeschlagene Fenster war laut Anklage nicht bemerkt worden (was sehr unwahrscheinlich ist), oder es war gar nicht eingeschlagen. Die Feuerwehrleute konnten (oder durften?) sich darüber nicht einig werden. Von dem durch die Feuerwehr eingeschlagenen Fenster existiert in den Ermittlungsakten die Teilvergrößerung eines Fotos, aufgenommen aus dem Innern des Restaurants. Das daneben liegende, angeblich von van der Lubbe eingeschlagene Fenster fehlt auf dem Abzug. Der originale Brandbericht der Berliner Feuerwehr verschwand am Vormittag nach dem Brand auf Nimmerwiedersehen in Görings Ministerium und lag nicht einmal dem Reichsgericht vor.

Im Restaurant soll van der Lubbe, der als Brandmittel lediglich Streichhölzer und Kohlenanzünder bei sich trug, an mehreren Stellen Feuer gelegt haben, später auch im Plenarsaal. Doch es fand sich im gesamten Reichstagsgebäude kein einziger Fingerabdruck von ihm, auch nicht auf der Glasscheibe eines Schiebefensters, die mit einem Porzellanteller eingeschlagen worden war, nicht einmal auf dem Teller selbst. Dagegen fand die Spurensicherung dort und an weiteren Stellen Fingerabdrücke anderer Personen, die laut Polizeiprotokoll aber nicht ermittelt werden konnten.

Bis auf zwei Ausnahmen, als er von »anderen« sprach, ohne daß geklärt wurde, wen er damit meinte, behauptete van der Lubbe seit seiner Festnahme, den Brand allein gelegt zu haben. Doch sämtliche vom Reichsgericht bestellten technischen Gutachter hielten es für unmöglich, daß eine einzelne ortsunkundige Person (van der Lubbe war zudem stark sehbehindert) im dunklen Reichstagsgebäude in der kurzen Zeit von knapp 15 Minuten den Brand im Plenarsaal gelegt haben konnte. Wie van der Lubbe am 13. März 1933 aussagte, rechnete er »von vornherein damit, daß ich bei der Tat ergriffen würde. Ich war sogar entschlossen, mich unter allen Umständen festnehmen zu lassen, auch dann, wenn mir nach der vollkommen gelungenen Tat ein unbemerktes Entkommen möglich gewesen wäre.« Litt er unter einem »Herostrat-Syndrom«? (Herostrat zündete im Jahr 356 vor unserer Zeitrechnung aus reiner Geltungssucht den Artemis-Tempel in Ephesos an, eines der sieben antiken Weltwunder.)

Van der Lubbe konnte weder bei Vernehmungen noch bei Ortsterminen eine nachvollziehbare Schilderung der Brandlegungen im Reichstagsgebäude geben. Untersuchungsrichter Paul Vogt erklärte im Prozeß: »Ich glaube, es wird nicht möglich sein, auch wenn die sämtlichen Beamten, die ihn über den Brandweg vernommen haben, gefragt werden und wenn die gerichtlichen Protokolle darüber verlesen werden, ein klares Bild zu bekommen, wie er gelaufen sein will.«

Seit dem 25. März 1933 mußte der Untersuchungsgefangene van der Lubbe als einziger der Angeklagten Tag und Nacht metallene Hand- und Fußfesseln tragen, angeblich wegen Suizidgefahr. So wurde er auch am ersten Prozeßtag vorgeführt. Während der Verhandlungen verfiel van der Lubbe zusehends und erschien immer aufgedunsener. Er antwortete kaum auf Fragen, wurde mehr und mehr lethargisch, sein Kopf hing vorn über. Es kam so weit, daß ihm ein Polizeibeamter die Nase putzen mußte, aus der ständig Schleim lief. Bei der Verkündung seines Todesurteils schlief van der Lubbe! Ausländische Prozeßbeobachter zeigten sich schockiert. Wurde van der Lubbe unter Drogen gesetzt? Durch eine Exhumierung und die Untersuchung seiner Überreste mit modernen Methoden könnte dieser Verdacht noch heute überprüft werden.

Professor Karl Bonhoeffer und dessen Assistent Dr. Jürg Zutt von der Berliner Charité, gleich im März 1933 als psychiatrische Gutachter bestellt, bescheinigten zwar, van der Lubbe sei zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, weigerten sich aber, seine Verhandlungsfähigkeit zu bescheinigen. So sahen sich die Nazis gezwungen, während der laufenden Verhandlung am 26. September 1933 einen weiteren Gutachter einzuschalten, den Leipziger Nervenarzt Dr. Richard Schütz. Dieser bescheinigte erst am 6. Dezember 1933 die Verhandlungsfähigkeit für den gesamten Prozeß. Wäre das nicht geschehen, hätte man unter dem Anschein eines rechtsstaatlichen Verfahrens van der Lubbe nicht hinrichten können.

Am 10. Januar 1934 wurde van der Lubbe in Leipzig mit der Guillotine enthauptet. Grundlage dafür war ein »Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe« vom 29. März 1933, das bestimmte: »§ 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat [vom 28. Februar 1933] gilt auch für Taten, die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar begangen sind.« Das Gesetz verletzte das in Artikel 116 der Weimarer Verfassung festgelegte Rückwirkungsverbot und erlangte als sogenannte »Lex van der Lubbe« traurige Berühmtheit. (Inzwischen verletzten aber auch die Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland in vielen Fällen den aus der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz [Art. 103, Abs. 2] übernommenen Artikel.)

Die Nazis verweigerten den Angehörigen die Überführung der Leiche in die holländische Heimat. Wollten sie eine Obduktion verhindern? Bis heute liegen die Überreste van der Lubbes auf dem Leipziger Südfriedhof in »doppelter Tiefe«, das heißt, über seinem Grab wurden andere Gräber angelegt.

Völlig überraschend stellte die Bundesanwaltschaft am 6. Dezember 2007 – knapp vor dem 75. Jahrestag der Reichstagsbrandstiftung – auf der Basis eines 1998 rückwirkend erlassenen Gesetzes (NS-AufhG) fest, »daß das Urteil gegen den im ›Reichstagsbrandprozeß‹ verurteilten Marinus van der Lubbe aufgehoben ist. [...] Die Feststellung der Aufhebung erfolgte von Amts wegen.« Grundlage hierfür waren laut Bundesanwaltschaft »Unrechtsvorschriften«, nämlich die Verordnung vom 28. Februar und das Gesetz vom 29. März 1933. Van der Lubbe wurde also nicht freigesprochen. Durch den Aufhebungsbeschluß wurde ein Wiederaufnahmeverfahren, in dem eine Exhumierung hätte angeordnet werden können, für immer unmöglich gemacht. Wollte sich die bundesdeutsche Justiz auf diese Weise einer ungeliebten »Leiche im Keller« entledigen?

Van der Lubbe wird in letzter Zeit manchmal als erster Widerstandskämpfer gegen die Nazis bezeichnet, doch er wurde als Sündenbock für die Brandstifter aus den Reihen der SA auf tragische Weise zu einem ihrer frühen Opfer.