erstellt mit easyCMS
Titel2012

Recht will erkämpft werden  (Manfred Sohn)

In diesem Jahr gab es ein trauriges, aber lehrreiches Jubiläum und ein bemerkenswertes Bundesverfassungsgerichtsurteil, die beide scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt ist breit diskutiert worden und braucht deshalb hier nicht referiert zu werden. Sein Kern dürfte für jeden Linken klar sein: Abgesehen von ein bißchen mehr Mitsprache für den Bundestag, der bisher immer allen Regierungen treu gefolgt ist, gibt das oberste deutsche Gericht grünes Licht sowohl für den mit Steuermilliarden aufgespannten Bankenrettungsschirm als auch für einen mit Ewigkeitsgarantie versehenen überstaatlichen Pakt, der vor allem den Kommunen und den Bundesländern als der Basis unserer bürgerlichen Demokratie in den nächsten Jahrzehnten finanziell die Luft abschnüren wird.

Angesichts der Tatsache, daß die Dramatik beider Bundestagsbeschlüsse – ESM wie Fiskalpakt – mit durchaus scharfen Worten vor allem von der Linkspartei gegeißelt worden ist, fiel auf, daß es so gut wie keinen Versuch gab, die acht Robenträger politisch unter Druck zu setzen. Dies blieb den versammelten rechten Medien vorbehalten, die vor der Urteilsverkündung mit zunehmender Lautstärke beschworen, ein Fehlurteil würde die ganze Europäische Union, wenn nicht gar die Weltgeschichte verändern. Auf der anderen Seite: Keine Mahnwache, geschweige denn eine größere Demonstration oder gar die Androhung eines fünfminütigen Streiks in den Fabriken und Büros dieses Landes wurde von den Klagenden auch nur erwogen, um diesen Angriff auf die verfassungsmäßigen Grundlagen der Demokratie abzuwehren. Gläubig wie eine versammelte Kirchengemeinde harrte die Linke – die parlamentarisch verfaßte wie die außerparlamentarische – aus, um mit gesenkten Haupt und hoffenden Blicken den Richterspruch aus Karlsruhe demütig entgegenzunehmen.

Das war anders bei einer Bewegung, deren Grund sich am 28. Januar zum 40. Mal jährte. Im Januar 1972 beschlossen die westdeutschen Ministerpräsidenten unter dem Vorsitz von Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlaß, durch den Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken der Zugang zum öffentlichen Dienst jahrzehntelang versperrt wurde. Der Innengeheimdienst verfertigte damals 35.000 Dossiers, 11.000 offizielle Berufsverbotsverfahren wurden eingeleitet, die zu 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst führten und – das war das gewollte Ziel – eine Atmosphäre der Angst verbreiteten. Der Kampf dagegen fand zu einem beträchtlichen Maße vor den Gerichten statt, die über die Klagen gegen das – so argumentierte die Linke damals – verfassungsfeindliche Berufsverbot zu befinden hatten. Die Prozesse wurden überwiegend verloren – bis letztlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Dorothea Vogt aus Jever recht gab, die wegen ihrer Kandidatur für die DKP aus dem Dienst entfernt worden war, und damit juristisch dem Spuk ein Ende bereitete.

Vergleichen wir die damalige Bewegung mit dem Kampf gegen den Fiskalpakt, fällt vor allem eines ins Auge: Damals gab es keinen einzigen Prozeß, in dessen Vorfeld es nicht Demonstrationen, Mahnwachen bis hin zu Solidaritätsstreiks in Schulen, Krankenhäusern oder anderen öffentlichen Institutionen gab und bei dem nicht die anreisenden Richter von Demonstranten empfangen wurden, bevor sie in die Verhandlung und anschließend in die Beratung gingen.

Beeinflussung der Gerichte? Ja, selbstverständlich, weil diese Gerichte Teil des politischen Apparates unserer bürgerlich verfaßten Demokratie sind. Das gilt vor allem für das Bundesverfassungsgericht, dessen Richter sorgfältig gemeinsam von CDU/CSU, SPD sowie – eingeschränkt – FDP und Grünen ausgesucht werden. Vielleicht hätte eine Politisierung, eine Bewegung für ein Urteil, das die Demokratie nicht schwächt, sondern stärkt, am Ergebnis zum Fiskalpakt gar nichts geändert. Aber es wäre eine würdevollere Niederlage gewesen als die, die wir jetzt kassiert, nein: demütig hingenommen haben. Und es hätte den Irrglauben wenigstens angekratzt, daß Gerichte wie die Götter des Olymp über dem politischen Kampf thronten. Aber ein Trost bleibt: Das wird nicht der letzte Angriff der Herrschenden auf unsere Verfassung bleiben – und damit besteht beim nächsten Mal die Chance, juristische Klugheit und politische Mobilisierung miteinander zu verbinden, wie das vor 40 Jahren gelungen ist.