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Titel2017

Der Winter unseres Missvergnügens  (Johann-Günther König)

Die in Shakespeares »Richard III« zum Zitat gewordene Zeile »The winter of our discontent« dürfte so manchen Briten in der bevorstehenden dunklen vierten Jahreszeit nicht aus dem Kopf gehen. Schließlich läuft derzeit regierungspolitisch und gesellschaftlich so ziemlich alles schief, ist nach wie vor überhaupt nicht klar, was die nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 und den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2017 aus den Fugen geratene Insel mit sich, der Europäischen Union, dem Commonwealth und der Welt tatsächlich vorhat. Schauen wir einmal genauer hin:

In den bislang erfolgten fünf Runden der Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sind in den zentralen Fragen für eine gütliche Trennung keine Ergebnisse erzielt worden. Zu den strittigen Trennungsmodalitäten dieser sogenannten ersten Verhandlungsphase gehören die britischen Finanzverpflichtungen gegenüber der EU (Schätzungen belaufen sich auf 60 bis 100 Milliarden Euro), der künftige Status der nordirisch-irischen Grenze, die nach dem Austritt eigentlich wieder eine EU-Außengrenze sein müsste, und die Rechte der mehr als drei Millionen EU-Bürger, die derzeit in Großbritannien leben und weit überwiegend arbeiten. Anfang Oktober billigten 557 von 678 Parlamentariern des EU-Parlaments, das letztlich über das Austrittsabkommen befinden muss, eine Resolution, nach der bislang »keine ausreichenden Fortschritte« erzielt worden sind und es deshalb zu früh für die zweite Verhandlungsphase über die künftigen Beziehungen mit Großbritannien sei, die eigentlich in diesem Herbst beginnen sollte. Guy Verhofstadt, der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, machte dafür die »Uneinigkeit« innerhalb der britischen Regierung verantwortlich. EU-Chefunterhändler Michel Barnier stimmte in der Debatte der Bewertung der Abgeordneten zu. Aus seiner Sicht gibt es nach wie vor »ernste Meinungsverschiedenheiten« vor allem über die finanziellen Verpflichtungen Londons. Zudem habe man noch längst nicht den »ausreichenden Fortschritt« erreicht, um mit Zuversicht die zweite Phase der Verhandlungen einzuleiten. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker äußerte sich entsprechend. Nach der fünften Verhandlungsrunde wird der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende Oktober den Stand der Dinge offiziell bewerten. EU-Ratspräsident Donald Tusk ließ vorsichtshalber bereits wissen, wenn die erste Verhandlungsphase nicht bis Dezember abgeschlossen werden könne, müsse »zusammen mit unseren britischen Freunden« entschieden werden, »wie wir weitermachen«. Jedenfalls wird die Zeit für ein umfassendes Austrittsabkommen extrem knapp und ein ungeregelter Brexit Ende März 2019 immer wahrscheinlicher.

 

Wie sagte doch Brexit-Minister David Davis vor gut einem Jahr, am 12. September 2016, im Unterhaus: »Wir stehen vor den wohl kompliziertesten Verhandlungen der Moderne, wenn nicht vor der kompliziertesten aller Zeiten.« Die von der irrlichternden und politisch schwer angeschlagenen Premierministerin Theresa May geführte Regierung wird dieser historischen Herausforderung bislang nicht ansatzweise gerecht; außer teils grotesken Beschwörungen hat sie nichts wirklich Konkretes zu bieten. Die Regierung habe 16 Monate seit dem Referendum verschwendet, warf Labour-Chef Jeremy Corbyn jüngst der Premierministerin vor und lästerte, ihr Kabinett gehe sich nur gegenseitig an die Gurgel. In der Tat mangelt es der britischen Regierung ebenso an angemessener Ernsthaftigkeit wie wegweisender Expertise. Schlimmer noch, sie ist in Sachen Austrittsverhandlungen heillos zerstritten und lässt bislang keine klare Verhandlungsposition erkennen. Nachdem Theresa May bei ihrer »Grundsatzrede« in Florenz am 22. September eine »kreative und pragmatische« Lösung für »neue, tiefgehende Beziehungen mit der EU« in Aussicht gestellt und eine Übergangsfrist von »rund zwei Jahren« nach dem offiziellen EU-Austritt Ende März 2019 ins Spiel gebracht hatte, während der weiterhin die derzeit gültigen Bedingungen – einschließlich der auf der Insel so umstrittenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) – gelten sollen, ließ sie gut zwei Wochen später in London erste Pläne für den Fall eines ungeregelten, sprich harten EU-Ausstiegs veröffentlichen, die ganz anders klingen. In dem Positionspapier der Regierung heißt es unmissverständlich, sollte bis Ende März 2019 kein neues Abkommen geschlossen sein, würden sich die künftigen Handelsbeziehungen mit der EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) richten. Um lange Staus besonders an den Fährhäfen zu verhindern, sollen dann die Zollkontrollen für Waren aus der EU im Hinterland abgewickelt werden und so weiter und so fort. Übrigens stützt mit Mervyn King immerhin der Ex-Chef der Bank of England die Position der Brexiteers: »Wenn die EU kein Freihandelsabkommen will, wird der Warenaustausch nach den Regeln der Welthandelsorganisation stattfinden. Das ist durchaus machbar. Der Handel mit den USA und China funktioniert ja auch so. Allerdings darf man nicht vergessen, dass britische Importe aus den EU-Ländern die Exporte um 140 Milliarden Euro übersteigen. Für die EU ist Großbritannien also ein wichtiger Absatzmarkt, und die Einführung von WTO-Zolltarifen von zehn Prozent hätte negative Folgen.« (Interview in: SZ, 10.8.2017)

 

Theresa May und die lautstarken Brexiteers um Boris Johnson, David Davis und Michael Gove wissen nun nur zu genau, dass im britischen Parlament die Abgeordneten mehrheitlich gegen einen – zumal harten – Ausstieg aus der EU sind. Sie sind deshalb auf die – bislang noch gewahrte – Parteidisziplin angewiesen. Da sich allerdings bereits gut 30 Mitglieder der Tory-Fraktion für ein Misstrauensvotum gegen Theresa May stark machen, dürfte ihre Zeit als Premierministerin im Zweifelsfall noch vor dem kommenden »Winter unseres Missvergnügens« abgelaufen sein. Die von ihr ohne Not ausgerufene Parlamentswahl, bei der die Tories im Juni die absolute Mehrheit verloren, sowie ihre Rede auf dem Parteitag der Konservativen in Manchester, bei der ihr am 4. Oktober minutenlang die Stimme versagte, symbolisieren jedenfalls nachgerade, dass der Chefin die Autorität, die Kraft und das Selbstbewusstsein für eine gute Regierungsführung fehlen. Fragt sich nur, welche Person beziehungsweise Persönlichkeit demnächst den Hut für 10 Downing Street in den Ring wirft und an Mays Stelle tritt. Sollte es der gegenwärtige Außenminister Boris Johnson sein, der die Regierungschefin in den vergangenen Wochen gleich mehrfach düpiert hat, wäre ein harter Brexit wohl kaum abzuwenden.

 

Übrigens fielen bei Mays Parteitagsrede einige Buchstaben aus dem hinter ihr prangenden Motto: »Building a country that works for everyone« (Wir gestalten ein Land, das für alle funktioniert) – Lügen haben eben nicht nur kurze Beine, sondern haften in einer ausgeprägten Klassengesellschaft wie der britischen auch nicht gut. Aber das ist ein Thema für sich – in meinem nächsten Beitrag.