erstellt mit easyCMS
Titel2018

Eine wortlose Lüge  (Ralph Hartmann)

Es war der 17. Juli 2014 gegen 15.20 Uhr, als die schreckliche Katastrophe geschah. Die Passagiermaschine der Malaysia Airlines, eine Boeing-777 auf dem Flug MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur (Malaysia), wurde im Luftraum über dem Osten der Ukraine abgeschossen. 283 Fluggäste aus zehn Ländern, darunter 85 Kinder und 15 Crewmitglieder, verloren ihr Leben. Die meisten Opfer – 193 Personen – waren niederländische Staatsbürger. Niemand überlebte.

 

Kaum dass die Trümmer der Boeing nahe der Stadt Tores in dem von den Selbstverteidigungskräften der Volksrepublik Donezk kontrollierten Gebiet gefunden worden waren, verkündete der Berater des Innenministers der Ukraine, Anton Geraschtschenko, das Flugzeug sei von einer Boden-Luft-Rakete des Fliegerabwehrkomplexes »Buk« abgeschossen worden. Zugleich verbreitete der einflussreiche Berater, der auch Mitglied des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine ist, auf seiner Facebook-Seite das Foto eines Raketenrauchschweifs vor blauem Himmel. Dazu schrieb er: »Putin! Du und deine Kumpane werden dem internationalen Tribunal nicht entgehen. Dies ist das Foto des umgekehrten Fußabdrucks, den der Start einer ›Buk‹-Rakete zurückließ. Fotografiert von Westen nach Osten, wenige Minuten nach dem Start im dritten Distrikt von Tores. Tausende von Menschen sahen den Start und den Flug der Rakete, die du so liebevoll deinen gesponserten Terroristen gabst!« Obwohl sich später kein einziger von den »Tausenden« Augenzeugen meldete und der Himmel am 17. Juli nicht blau, sondern bedeckt war, war von Anfang an klar: Schuld an der Katastrophe waren die Russen, wer denn auch sonst?

 

Kurze Zeit nach dem Absturz nahm ein von den Niederlanden geleitetes Gemeinsames Ermittlerteam (JIT, Joint Investigation Team) die Arbeit auf. Dem Team gehören neben dem niederländischen Leiter noch Ermittler aus Malaysia, Australien, Belgien und der Ukraine an. Russland wurde die Teilnahme verweigert, worauf Moskau wiederholt mit verständlicher Kritik reagierte. Als das JIT 2016 seinen ersten Zwischenbericht veröffentlichte und Fred Westerbeke, leitender Mitarbeiter der obersten niederländischen Staatsanwaltschaft, mitteilte, es gebe handfeste Belege dafür, dass das Buk-9-M-Raketensystem 38 Stunden vor dem Abschuss aus Russland über die Grenze in die Ostukraine gebracht worden und tags darauf – mit einer Rakete weniger von insgesamt vier – wieder zurückgekehrt sei, meldete sich auch Präsident Putin zu Wort. Auf einer Pressekonferenz mit seinem französischen Amtskollegen Macron stellte er unter anderem fest: »Wir haben ursprünglich angeboten, zusammenzuarbeiten, um diese Tragödie zu untersuchen. Aber zu unserer Überraschung wird uns kein Zugang zu den Ermittlungen gegeben … Die ukrainische Seite arbeitet mit, trotz der Tatsache, dass die Ukraine internationale Vorschriften verletzt hat und den Luftraum über einem Territorium, in dem Kampfhandlungen stattfanden, nicht geschlossen hat.« (https://deutsch.rt.com) Auch in der Folgezeit blieb Russland von den offiziellen Ermittlungen ausgeschlossen.

 

Im Mai des Jahres veröffentlichte das Joint Investigation Team einen weiteren Zwischenbericht. Darin wurde festgestellt, dass die Rakete, mit der die Boeing abgeschossen worden war, von der russischen Armee stamme. Wörtlich hieß es: »Das Flugabwehrsystem vom Typ Buk gehörte zu Beständen der 53. Flugabwehr-Brigade der Russischen Föderation, stationiert in Kursk.«

 

Den Bericht feierte die Mehrheit der bundesdeutschen Medien mit einem prächtigen Schlagzeilenfeuerwerk: »MH17-Abschuss: Moskau soll Verantwortliche benennen. Die verwendete Rakete ist identifiziert. Niederlande und Australien künden rechtliche Schritte gegen Russland an« (Die Welt), »Ermittler zu MH17-Abschuss. Rakete gehörte zu russischer Brigade« (ZDF), »Nach Untersuchung: Niederlande und Australien machen Russland für Abschuss von MH17 verantwortlich«, (Spiegel online), »Flugzeugabsturz über der Ukraine – Niederlande: Russland verantwortlich für MH17-Abschuss«, (Süddeutsche Zeitung), »Internationale Experten sicher: Russland hat Malaysia-Airlines-Flug MH17 abgeschossen« (RTL), »WM-Gastgeber Russland schoss 298 Menschen vom Himmel – Grünen-Politikerin fordert politischen WM-Boykott« (Bild).

 

Angesichts des zweiten JIT-Zwischenberichtes versuchten die Niederlande und Australien Nägel mit Köpfen zu machen. Sie machten die Russische Föderation offiziell rechtlich haftbar für eine Beteiligung am Abschuss des Passagierfluges MH17. Der niederländische Außenminister Stef Blok teilte mit, Russland sei von seinem Land und Australien gebeten worden, Gespräche über eine Lösung der Situation aufzunehmen.

 

Moskau reagierte erbost, stellte die Glaubwürdigkeit der Ermittlungen erneut in Zweifel und wies die Anschuldigungen energisch zurück. Dabei kam den Russen ein »Fehler« des Ermittlungsteams zupass. Das JIT hatte von Moskau verlangt, den Seriennummern auf den aufgefundenen Überresten der Buk-Rakete nachzugehen. Offenbar hatten einige seiner Mitglieder nicht mit der russischen Militär-Bürokratie gerechnet. Mitte September nun demonstrierte diese auf einer Pressekonferenz des russischen Verteidigungsministeriums ihre Zuverlässigkeit. Mitgeteilt wurde, dass die Seriennummer auf den Trümmerteilen der Rakete zurückverfolgt werden konnte. Aus der Analyse der Seriennummer und der Dokumentation der Rakete sei Folgendes nachgewiesen worden:

Die Rakete ist im Moskauer Gebiet im Jahr 1986 produziert worden. Noch im Jahr 1986 ist die Rakete in den Militärstützpunkt Nr. 20152 auf dem Territorium der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (heute Territorium der Ukraine) transportiert worden. Es ist dokumentiert, dass sie von der Empfängerseite erhalten wurde. Danach ist die Rakete nie mehr zurück auf das Territorium der heutigen Russischen Föderation gebracht worden. Der Militärstützpunkt, wo sie im Dienst stand, befindet sich in der Stadt Stryj im Gebiet Lwiw in der Ukraine. Alle Gremien, die sich mit der Aufklärung des MH17-Absturzes befassen, darunter die internationale Untersuchungskommission, können bei entsprechender Anfrage vollen Zugang zu all den genannten Archivdokumenten erhalten.

 

Das ukrainische Raketenabwehr-Regiment, in dessen Dienst die entsprechende Rakete stand, sei zudem mehrfach in das Konfliktgebiet im Donbass verlegt worden. (https://de.sputniknews.com)

 

Das russische Verteidigungsministerium teilte weiterhin mit, dass Dokumentationen dieser Art für jede Rakete immer auf dem Herstellungsstandort ausgefüllt und aufbewahrt werden — unabhängig davon, ob das Produkt sich weiterhin auf dem Territorium der Russischen Föderation befindet oder nicht.

 

Neben den Dokumenten zum Verbleib der Buk-Rakete präsentierte das Ministerium Aufzeichnungen einer Diskussion ukrainischer Militärs über das Risiko, durch den gesperrten Luftraum über der Ostukraine zu fliegen. In der Unterredung habe der Verantwortliche für die Luftsicherheit im Konfliktgebiet, Oberst Ruslan Grinchak – er war im Juli 2014 der Kommandant der 164. Technischen Funkbrigade Nr. A1451 der ukrainischen Luftwaffe, die den Flug von MH17 verfolgt habe –, erklärt: »Wenn das so weitergeht, dann werden wir noch eine andere malaysische Boeing runterholen, und alles wird wieder gut sein.« (https://deutsch.rt.com)

 

Während das JIT die Enthüllungen des russischen Verteidigungsministeriums »zur Kenntnis« nahm, bezeichnete der Chef des ukrainischen Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung, Alexander Turtschinow, sie als eine »gescheiterte Lüge« des Kreml.

 

Und wie berichteten die deutschen Leit- und sonstigen Medien? Mit Ausnahme von skeptischen Berichten im MDR und Stern hüllten sie sich in völliges Schweigen. Die gleichen objektiven Medien, die so schrill, eilfertig und ausführlich über die Anklagen an die Adresse Russlands im zweiten JIT- Bericht informiert hatten, verloren keine Silbe, kein Wort über die sensationellen Enthüllungen des russischen Verteidigungsministeriums. Bei weitem nicht zum ersten Mal: Still ruhte der See. Verschweigen ist aber auch eine Lüge, wenn auch eine wortlose.