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Sozialabbau 2011, Folge 16  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

9. Oktober: Über 30 Jahre lang hat Wolfgang P. im Gartenbau gearbeitet und eine fünfköpfige Familie ernährt. Wegen eines Bandscheibenvorfalls kann der Gärtner seinen Beruf nicht mehr ausüben, berichtet Die Welt. Er und seine Frau leben inzwischen von »Hartz IV« und gespendeten Lebensmitteln. Zur Tafel zu gehen habe ihn große Überwindung gekostet, erzählt der Mann dem Blatt. 1994 gab es in Deutschland gerade vier Tafeln, heute sind es über 880 im ganzen Land und 1,3 Millionen Menschen, die regelmäßig an diesen Einrichtungen für eine Tüte Lebensmittel Schlange stehen, so Die Welt. Aufgrund der steigenden Lebensmittelpreise und der zunehmenden Altersarmut rechnet Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbands Deutsche Tafel, damit, daß die Nachfrage nach gespendeten Lebensmitteln weiter zunehmen wird.

11. Oktober: Die Legende der Marktwirtschaft, daß Leistung sich lohne, widerlegt der »Datenreport 2011«, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt gemeinsam mit anderen Institutionen. Danach ist das Risiko derjenigen, die sich im unteren Fünftel der Einkommensverteilung befinden, auf dieser Stufe zu verharren, seit den 1980er Jahren von 57 auf 65 Prozent gestiegen. Selbst für Verdiener in der nächsten Einkommensstufe ist es um 13 Prozent auf 51 Prozent gestiegen. Die geringsten Chancen haben jene, die als »armutsgefährdet« gelten (Einkommen 2008 unter 929 Euro monatlich). 87 Prozent von ihnen waren von 2005 bis 2009 »mindestens einmal« arm. Ein Drittel lebt schon länger als fünf Jahre in Armut. Dies zeige sich besonders beim Wohnen, so Roderich Egeler, Präsident des Statistischen Bundesamtes, bei der Vorstellung der Daten. Jeder Dritte der rund 13 Millionen armen Bundesbürger sei durch die Wohnkosten »finanziell schwer belastet«. 16 Prozent der Armen können nach eigenen Angaben ihre Wohnung nicht angemessen warm halten.

12. Oktober: Von den über 65-Jährigen in Berlin erhielt am Stichtag 31. Dezember 2009 fast jeder Zwanzigste Grundsicherung. Das sagt der Bericht »Zur sozialen Lage älterer Menschen in Berlin – Armutsrisiken und Sozialleistungsbezug” der Senatsverwaltungen für Soziales und für Gesundheit. Im Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg beziehe jeder Zehnte im Rentenalter Grundsicherung auf »Hartz IV«-Niveau (bis 364 Euro). In Mitte seien es immerhin acht Prozent und in Neukölln sieben. Insgesamt gelten 14,1 Prozent der gesamten Hauptstadtbevölkerung als armutsgefährdet. Es seien vorwiegend alleinlebende Frauen, die Grundsicherung im Alter beantragen müssen: In knapp zwei von drei Einpersonenhaushalten mit Grundsicherung im Alter leben Frauen. Über 65-Jährige in Berlin lebende Ausländer tragen ein um mehr als das Siebenfache höheres Armutsrisiko als Deutsche gleichen Alters, stellt der Bericht fest. Mehr als drei Viertel der Grundsicherungsbezieher ab 65 Jahre in Berlin erzielen zwar Einkünfte aus einer Altersrente, welche aber nicht ausreicht, um unabhängig von staatlichen Transferleistungen zu leben.

– Wenn die Rente nicht reicht, suchen die Betroffenen Möglichkeiten, hinzuzuverdienen. Welche Auswirkungen das hat, wenn Widerstand gegen den Raubbau an der Rente sinnlos erscheint, zeigt eine Idee des Landesseniorentages 2011 Baden-Württemberg: »Ein Zuverdienst zu ›schmalen Renten‹ durch den Bundesfreiwilligendienst könnte den Älteren und der Gesellschaft helfen.« Die Älteren hätten ein »Leistungspotential«, das nutzbar gemacht werden könnte, meint Roland Sing, der Vorsitzende des Landesseniorenrates Baden-Württemberg (LSR).

13. Oktober: Im brandenburgischen Landkreis Oberhavel erhalten 180 Asylbewerber Gutscheine statt Geld. Landrat Karl-Heinz Schröter (SPD) und sein Stellvertreter Egmont Hamelow sorgen sich dabei um die Stabilität des Euro und berufen sich auf Paragraph 35 des Bundesbankgesetzes, berichtet die Märkische Zeitung. Die zeitliche Begrenzung der Gutscheine, begründet das Landratsamt in einem Schreiben, ziele darauf ab, »den Umlauf einer konkurrierenden Währung und damit verbunden, den Verlust der Währungsstabilität zu verhindern«. Man müsse verhindern, daß das Geldschöpfungsmonopol der Zentralbanken unterlaufen wird. Doch nicht nur Asylbewerber bekommen Gutscheine, sondern auch »unkooperative« Arbeitslose, so die Zeitung. Im vergangenen Jahr erhielten 373 »Hartz IV«-Bezieher in dem Landkreis statt Bargeld Marken.

15. Oktober: Gesundheitliche Probleme sind immer häufiger Ursache für eine private Verschuldung, warnt der Vorsitzende des Vereins »Armut und Gesundheit in Deutschland«, der Mainzer Arzt und Sozialpädagoge Gerhard Trabert. Dieser Teufelskreis sei durch die »Hartz IV«-Gesetzgebung verschärft worden. »Diese Form von Armut ist von der Politik gemacht«, meint der Arzt laut der Rhein-Zeitung. Pauschale Vorurteile weist Trabert zurück: »Die üblichen Aussagen, daß Krankheiten durch Rauchen, Alkoholkonsum, schlechte Ernährung und Bewegungsmangel selbst verschuldet sind, stimmen so einfach nicht.« Viele Leistungen werden von den Krankenkassen nicht mehr übernommen, rechnet er vor: »Bei »Hartz IV«-Empfängern liegt der monatliche Gesundheitsetat pro Person bei 15,50 Euro.«

18. Oktober: Die Zahl der Schleswig-Holsteiner, die trotz Arbeit aufgrund geringer Löhne zusätzlich »Hartz IV«-Leistungen beziehen müssen, ist zwischen 2007 und 2011 um 5.400 auf 48.000 gestiegen. Das ergab laut Flensburger Tageblatt eine statistische Auswertung der Regionaldirektion Nord der Agentur für Arbeit. Von den 48.000 »Aufstockern« gehören über 50 Prozent zu den geringfügig Beschäftigten mit nicht mehr als 400 Euro im Monat, so der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).

19. Oktober: Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten in den Jahren 2000 bis 2010 um drei Millionen auf insgesamt rund zehn Millionen gestiegen. Ihr Anteil an den Erwerbstätigen stieg gleichzeitig von 19 auf 26 Prozent. Damit übertrifft die Bundesrepublik deutlich den EU-Durchschnitt von derzeit 19 Prozent. Dem DIW zufolge gab jeder fünfte Betroffene an, nur deshalb Teilzeit zu arbeiten, weil er keine Vollzeitstelle fand. 25 Prozent der Teilzeitjobber würden gern mehr Stunden arbeiten als jetzt. Ein Beispiel zeigt die Mitteldeutsche Zeitung: Elke R. ist keine »Hartz IV«-Empfängerin mehr. Seit fast zwei Monaten wäscht sie Geschirr im Restaurant »Bella Mia« in Weißenfels ab. Das macht sie pro Woche sechs Tage und insgesamt 35 Stunden. Immer ab 17.30 Uhr steht sie am Becken – bis der letzte Teller abgewaschen ist. Dafür bekommt sie etwa 50 Euro monatlich mehr als vom Amt. Das ist ihr egal. Hauptsache weg von »Hartz IV«.

– In der Rheinischen Post verrät Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, daß er für pauschale »Hartz IV«-Leistungen sei: »Die Vielzahl an Klagen lässt sich nur verhindern, wenn wir von der Einzelfallgerechtigkeit wegkommen.« Das Bundesverfassungsgericht hatte dagegen bei seinem Urteil von 2010 zum »Hartz IV«-Regelsatz betont, daß die Achtung der Würde jedes Einzelnen verfassungsrechtlich eine hohe eigenständige Bedeutung habe.
20. Oktober: Im Jahr 2010 wurden in Deutschland 21,7 Milliarden Euro netto für Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII »Sozialhilfe« ausgegeben, meldet das Statistische Bundesamt (Destatis). Das entspreche einer Steigerung von 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 2010 entfiel laut Statistischem Bundesamt mit 57 Prozent der überwiegende Teil der Nettoausgaben für Sozialhilfe auf die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. 19 Prozent der Ausgaben wurden für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aufgewendet, 14 Prozent für die Hilfe zur Pflege und zehn Prozent vor allem für die Hilfe zum Lebensunterhalt und für die Hilfen zur Gesundheit. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich diese Ausgabenanteile nicht verändert.

– Die Zahl der Selbständigen, die nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen, steigt stetig, stellte das Institut für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn fest. Danach erhalten derzeit über 127.000 Selbständige ergänzendes Arbeitslosengeld II (ALG II). Seit 2005 sei der Anteil dieser Personengruppe an allen Grundsicherungsempfängern von 4,4 Prozent auf 9,4 Prozent gestiegen. Die Wissenschaftler schließen nicht aus, daß noch mehr Selbständige einen Anspruch auf ALG II haben, den sie aber nicht einfordern. 2010 verdienten rund 270.000 Selbstständige nicht einmal 500 Euro netto monatlich, gut jeder vierte Selbständige (rund 950.000 Personen) blieb unter 1.100 Euro. Besonders schwierig sei die Einkommenssituation von Solo-Selbständigen, weiblichen Selbständigen oder Selbständigen in der Kreativwirtschaft.