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Titel222013

Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat? (3)  (Martin Lemke)

Verfolgen wir die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die Akzeptanz des Rechtsstaates innerhalb der Justiz in den 1960er und 1970er Jahren. Nach dem KPD-Verbot 1956 führten die Staatsschutzabteilungen der Staatsanwaltschaften und Gerichte Tausende Verfahren gegen Beschuldigte, die wegen Verstoßes gegen das Parteiverbot in Tateinheit mit Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht angeklagt wurden. Der außergewöhnlich erfahrene Anwaltskollege Heinrich Hannover aus Bremen hat ein solches Verfahren beschrieben:
Der Journalist Paul Beu war 1965 vor dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) angeklagt worden. Der Vorwurf gegen ihn lautete, er habe die »Wühlarbeit« der verbotenen KPD unterstützt, indem er Artikel geschrieben habe, in denen er sich mit den Lebensbedingungen von Hafenarbeitern und Seeleuten beschäftigte. Rechtsstaatlich gesehen hätte man hier die Beschreibung einer konkreten strafbaren Handlung erwarten können. Die Anklage gegen Beu las sich hingegen so: »Der Angeschuldigte beschäftigt sich in seinen Artikeln fast ausschließlich mit der sozialen Lage der Arbeiter und Seeleute. Hierbei kommt ihm zugute, daß er durch seine Herkunft und seinen erlernten Beruf, er war selbst einige Jahre aktiver Seemann, und durch seine Tätigkeit als Funktionär der KPD mit den örtlichen Verhältnissen vertraut ist. Außerdem verfügt er über die Fähigkeit, durch geschickte Auswertung der Presse und der Fachliteratur den Anschein der Sachkunde zu erwecken. Er knüpft in seinen Artikeln immer an bestimmte tagespolitische Ereignisse an und setzt sich vorwiegend mit den Forderungen und Aktionen der Gewerkschaften auseinander. Dabei bemüht er sich, den Eindruck zu erwecken, als ginge es ihm nur darum, die Arbeit der Gewerkschaften zu unterstützen und das Los der Werktätigen zu verbessern. Tatsächlich verfolgt er jedoch das Ziel, Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft zu schüren, sie zu immer neuen Forderungen anzustacheln und die Spannung zwischen den Sozialpartnern zu vertiefen.«

Soweit die Vorwürfe der Anklage. Eine Tathandlung wird damit nicht beschrieben. Heute würde man sagen: Der Inhalt der Anklage belegt, daß der Journalist Paul Beu etwas von seinem Beruf versteht. Damals war es anders. Nach 17 Verhandlungstagen verurteile ihn der Bundesgerichtshof im Dezember 1965 wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot und Geheimbündelei zu zwei Jahren Gefängnis. Im Urteil des BGH heißt es dazu: »Die Artikel des Angeklagten erfüllen als solche weder einen strafrechtlichen Tatbestand des Staatsgefährdungsrechtes noch des allgemeinen Strafrechtes, auch wenn der Angeklagte eine scharfe Sprache führt und harte Kritik übt. Die Artikel könnte auch ein nicht der verbotenen Partei angehörender Kommunist geschrieben haben, ohne sich dadurch einer Strafverfolgung auszusetzen. Der Angeklagte hat sie als Funktionär der verbotenen KPD geschrieben und sich dadurch strafbar gemacht. Seine Artikel lagen im Interesse der verbotenen Partei, deren vordergründige Nahziele durch sie gefördert wurden. Der Angeklagte ist kein blind ergebener und sturer Parteifunktionär, sondern besitzt Charme, Humor und Selbständigkeit. Er ist ein geschulter Kommunist, der von der Richtigkeit seiner politischen Anschauung überzeugt ist und dadurch als politischer Agitator besonders überzeugend wirkt. Er ist als Propagandist gefährlich.«
Die von Heinrich Hannover erhobene Verfassungsbeschwerde rügte die Verletzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung: Der Angeklagte könne nicht deshalb bestraft werden, weil er sich im Auftrage einer illegalen Partei legal verhalte. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts wies 1969 die Verfassungsbeschwerde zurück: Die legale Arbeit organisierter Kommunisten dürfe bestraft werden, weil die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht durch die Einzelhandlung als solche, sondern dadurch gefährdet werde, daß mit ihr die Ziele der verbotenen Partei in organisierter Form weiter verfolgt würden.

Die Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien hätte einen konkreten Tatvorwurf vorausgesetzt. Dann wäre es nicht möglich gewesen, ein legales Verhalten wegen der Nähe zu einer verbotenen Partei mit zwei Jahren Gefängnis zu bestrafen.

Die Justiz brachte die freiheitlich demokratische Grundordnung gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien in Stellung – und das wird uns noch häufiger begegnen: Wenn die Justiz gefordert ist, sich zwischen rechtsstaatlichen Prinzipien einerseits und dem staatlichen Geltungsanspruch andererseits entscheiden zu müssen, also zwischen Rechtsstaat und Staatsräson, fällt die Entscheidung zugunsten der Staatsräson und damit im Zweifel gegen den Rechtsstaat. Sie dient zuerst dem Staat und dann erst dem Rechtsstaat. Das war in den sechziger und siebziger Jahren so, und das hat sich bis heute nicht geändert. Der Grundsatz Staatsräson vor Rechtsstaat gilt besonders dort, wo es in der Justiz ideologisch wird oder wo unbestimmte Rechtsbegriffe im Spiel sind. Ein Beispiel: Der BGH bestimmt in seinen Urteilen, daß die Verteidigung der Rechtsordnung und einer funktionsfähigen effektiven Strafrechtspflege notwendigerweise die Beschneidung von Beschuldigtenrechten mit sich bringt und eine Minimierung von Beweisverwertungsverboten wie auch den Abbau von Beweisantragsrechten zur Folge haben muß. Auf die umgekehrte Idee, die Rechtsordnung mit mehr rechtsstaatlichen Elementen zu verteidigen, also mit mehr Beschuldigtenrechten, mit strengeren Beweisverwertungsverboten und mit mehr Beweisantragsrechten, auf diese naheliegende Idee kommt der mit juristischem Sachverstand ausgestattete BGH viel zu selten. Nach meinem Verständnis läßt sich eine demokratische Rechtsordnung, welche dem Recht und nicht dem Staat den Vorzug gibt, besser verteidigen, und sie kommt auch besser zur Geltung.

Sicher täte es der Strafrechtspflege und ihrer Funktionsfähigkeit gut, wenn Angeklagte und Verteidiger den Eindruck gewönnen, von der Justiz zur Ausschöpfung all ihrer Rechte ermuntert zu werden, damit ein rechtsstaatliches und am besten auch ein gerechtes Urteil zustande kommt. Stattdessen müssen Verteidiger ständig in den Kategorien von Widerspruch, Rügeverlust, Rechtsmitteln, Ausschlußfristen und dergleichen denken und verteidigen. Die Worte »Ermunterung der Verteidiger zur Ausschöpfung aller Rechte« mögen vor dem Hintergrund meiner eigenen alltäglichen Berufserfahrungen mit der Justiz phantastisch klingen, um nicht zu sagen: »verrückt«. BGH-Richter folgen der Staatsräson und stellen die rechtsstaatlichen Grundsätze hintan, um auf solche abgefeimten Instrumente zu kommen, wie es beispielsweise die qualifizierte Rügepräklusion ist.

Qualifizierte Rügepräklusion – man erkläre das mal dem Mandanten: Polizei, Staatsanwalt und Gericht dürfen in Ihrer Strafsache Fehler machen und sich rechtswidrig verhalten. Sie, lieber Mandant, nicht die Verursacher der Rechtswidrigkeit, müssen dann Beweise erbringen und sie auch rechtzeitig vorlegen, und das eben jenen gegenüber, die den Verfahrensverstoß begangen oder jedenfalls geduldet haben. Und es sind dieselben, die über sein Vorliegen und seine Erheblichkeit entscheiden und dabei allzugern die Früchte des Verfahrensverstoßes nutzen, um Sie, lieber Mandant, zu überführen und zu verurteilen ... Da fragt der Mandant, falls er es überhaupt verstanden hat, zu recht: »Wo bleibt denn da der Rechtsstaat?«

Ich habe es als Strafverteidiger schon oft erlebt, daß im Gerichtssaal nach der Vernehmung eines Polizeibeamten, der Tatverdächtige vernommen hatte, und nach meinem Widerspruch gegen verbotene Vernehmungsmethoden einfach ein zweiter Vernehmungsbeamter erscheint, um durch seine Aussage alle Verfahrensverstöße zu heilen. Mit einem fairen Verfahren hat das aus meiner Sicht nichts zu tun, aber der BGH gibt dem staatlichen Strafanspruch den Vorzug und nicht den Beschuldigtenrechten.

Die Artikelserie »Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat?« wird fortgesetzt.