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Titel2312

Angekommen  (Thomas Rothschild)

Bereits am Tag der ersten Runde zur Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart kommentierte der Journalist Holger Gayer in der Onlineausgabe der Stuttgarter Zeitung: »Gleichzeitig bestätigt das Resultat aber einen seit 2009 bemerkenswert konstanten Befund: Stuttgart ist nicht mehr klassisch konservativ. Sowohl bei den Bundestags- und Gemeinderatswahlen vor drei Jahren als auch bei der Abstimmung über die Zusammensetzung des Landtags vor einem Jahr gab es in der Landeshauptstadt stabile Mehrheiten jenseits von CDU, FDP und – auf kommunaler Ebene – den Freien Wählern. Diese Tendenz hat sich mit dem nun vorliegenden Zwischenergebnis der OB-Wahl in dramatischer Weise beschleunigt. Zusammengerechnet kommen Grüne, SPD und SÖS/Linke auf mehr als 60 Prozent aller abgegebenen Stimmen.« Gayer wertete das Ergebnis »in der Hauptstadt des schwäbischen Liberalismus« als einen politischen Erdrutsch, der auch die CDU in eine tiefe Krise stürze.

Der Partei des ländlichen Raums fehle es an Personal, das auch eine urbane Stadtgesellschaft überzeugen könne. Gayer weiter: »Obwohl die Union in Andreas Renner vielleicht sogar einen geeigneten Kandidaten für Stuttgart aus den eigenen Reihen hatte, entschied sich die Mehrheit für den parteilosen Sebastian Turner. Der Unternehmer sollte der CDU die Tür zur neuen bürgerlichen Mitte in der Stadt öffnen. Doch nun droht auch dieses Experiment zu scheitern.

Denn dort, wo die CDU mit Turner hinwollte, sitzen schon die Grünen. Die einstigen Außenseiter haben sich längst im Zentrum des Bürgertums breitgemacht. Sie sind auf eine Art konservativ-progressiv, die der CDU abhanden gekommen ist: werterhaltend, aber gleichzeitig aufgeschlossen. Fritz Kuhn steht ebenso sinnbildlich für diesen scheinbaren Wertewiderspruch wie Winfried Kretschmann.« Nun ist zwar nicht ganz klar, was man sich unter »konservativ-progressiv« vorstellen soll. So etwas wie heiß-kalt oder wie hell-dunkel? Es stimmt zwar (und ist keine neue Entdeckung), daß Parteien und Personen, die im traditionellen Verständnis als konservativ galten, sich heute als die eigentlich Progressiven darstellen, indem sie etwa für beschleunigte Technisierung oder für Entstaatlichung des Marktes eintreten, aber gerade in diesem Sinne trifft die Beschreibung eher auf CDU und FDP als auf die Grünen zu. Und auf die Unterscheidung von Wertkonservatismus und Strukturkonservatismus hat Erhard Eppler schon vor Jahrzehnten bestanden.

Genauer als Holger Gayer hat das schon sein Kollege Reiner Ruf nach dem zweiten Wahldurchgang gesehen. Er zitiert Fritz Kuhn, der festgestellt hat, daß die Grünen »breit ins Bürgertum eingedrungen« seien. Und er wendet, nicht ohne Hohn, aber auch nicht ohne Berechtigung, ein, daß sie in Wahrheit dort immer schon waren. Ruf beschreibt das Ergebnis der OB-Wahl als eine »Heimkehr ins angestammte Milieu«. Und rückblickend meint Ruf: »Schon der Widerstand gegen den Atommeiler Wyhl war kein auch nur entfernt linkes Projekt; er entsprang dem Mißtrauen gegen bürokratisch abgeschottete Großtechnologien und der Sorge um die eigene, wenn man so will: kleine Lebenswelt. Saubere Umwelt, gesundes Essen, überschaubare politische Strukturen – das sind Sehnsüchte, die tief ins bürgerliche Seelenleben hineinreichen. Gerade die Grünen im Südwesten haben diesen Boden besonders sorgsam bestellt. Deshalb sind sie so erfolgreich.«

Nun war der Widerstand gegen Atommeiler komplexer, als Ruf es darstellt, und er enthielt durchaus auch Elemente eines linken Projekts. Aber grundsätzlich hat der Kommentator mit seiner Charakterisierung recht. Was ist, wenn man das berücksichtigt, von einem grünen Oberbürgermeister zu erwarten, der sich darüber freut, daß seine Partei »breit ins Bürgertum eingedrungen« sei? Eine linke, also eine soziale, egalitäre, emanzipatorische Politik? Eine Politik, die sich von der der anderen bürgerlichen Parteien, der CDU, der FDP und der SPD, unterscheidet?

Was wäre denn solch eine linke Kommunalpolitik? Es gibt in der Geschichte ein Modell, das Modell des »Roten Wien«, das eine Sozialdemokratie, die noch zu Recht so hieß, zwischen 1918 und 1934 in der österreichischen Hauptstadt etabliert hat. Was waren die Unverzichtbarkeiten des Roten Wien? Die intensive Errichtung von Gemeindebauten, also von erschwinglichen und mit kollektiven Einrichtungen versehenen Wohnungsanlagen unter kommunaler Verwaltung; die Einrichtung von Kindergärten und Horten (oft direkt in den Gemeindebauten); die Förderung von Vereinen und Freizeiteinrichtungen für die in der Gesellschaft Unterprivilegierten und sozial Benachteiligten; eine kostenlose medizinische Versorgung; eine Vermehrfachung der Sozialausgaben; die Einführung einer Luxussteuer. Welche von diesen Anregungen wird Fritz Kuhn aufnehmen? Was davon wird er verwirklichen? Daran, allein daran, wird zu messen sein, ob die Grünen eine mehr oder weniger linke Alternative, ob sie also wirklich progressiv sind oder nur eine Variante der konservativ-bürgerlichen Parteien und Kommunalregierungen. Fritz Kuhn und seine Partei werden sich entscheiden müssen, ob sie in der Tradition des Roten Wien stehen wollen oder nur das Erbe der CDU antreten, dem Bürgertum zum Gefallen.

Wovon ist denn die Rede, wenn sich alle nach dem Bürger drängen (und damit ist nicht der Staatsbürger gemeint)? Arthur Schnitzler hat es einmal sehr schön formuliert: »Was den Bürger charakterisiert – oder vielmehr das lächerliche, auch unter Proletariern und Adeligen vorkommende Geschöpf, das heutige Literaten unter jenem Namen zu begreifen lieben –, das sind keineswegs positive oder negative Eigenschaften besonderer Art, sondern vielmehr der Umstand, daß der ›Bürger‹ es fertigbringt, auf seine Fehler, ja auf seine Laster gerade so stolz zu sein wie auf seine Vorzüge und auf seine Tugenden, und daß er in jedem Fall mit sich höchst einverstanden ist, ob er duckmäusert oder über die Schnur haut.«

In seinem Buch über die SPD aus dem Jahr 2000 beklagte Christian von Ditfurth, daß die SPD »zu oft das Gegenteil von dem praktizierte, was sie gefordert oder versprochen hatte«. In der Weimarer Republik betraf das etwa den Panzerkreuzerbau, nach dem Godesberger Programm die Überführung großer Wirtschaftsgebilde in Gemeineigentum, die Investitionskontrolle, die Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft oder die Änderung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Eingestandenermaßen zugespitzt formuliert von Ditfurth: »Bis heute trauen sich manche Sozialdemokraten nicht mehr, auf das gültige Parteiprogramm zu verweisen, denn nur Naive können annehmen, dieses sei ernst gemeint und würde die Regierungsarbeit beeinflussen.« Und zum Beleg zitiert er aus dem Berliner Programm von 1989, in dem die Rede ist von einer von Klassenschranken befreiten Gesellschaft, vom Abbau von Privilegien und von der Vollendung der Demokratie. Darauf folgt ein Satz, der ungeschützt ausspricht, was immer mehr potentielle Sympathisanten von der SPD abstößt: »In Wahrheit will die gegenwärtige sozialdemokratische Politik die Reichen noch reicher machen in der Hoffnung, daß dabei Arbeitsplätze entstehen.« Dieser Satz ist leider ebenso wahr wie banal. Zu Bernsteins Zeiten und noch vor kurzem hätte er allenfalls die christlich-sozialen Gegner charakterisiert. Er ist eins der stärksten Argumente dafür, daß sich die SPD aufgibt. Und von Ditfurth paraphrasiert sarkastisch den alten Slogan »Was gut ist für Ford, ist gut für Amerika« mit: »Was gut ist für Volkswagen, ist gut für Deutschland.«

Dieser Zustand freilich hat eine Vorgeschichte. Er ist das bisherige Ende eines seit langem anhaltenden Prozesses. Mit einer hohen Plausibilität behauptet Christian von Ditfurth: »Die Grünen besetzten den Platz, den die Schmidt-SPD links frei gemacht hatte. Es gibt in der Politik kein Vakuum, die Nachfrage schafft sich ihr Angebot.« Nur sind die Grünen von heute nicht mehr die Grünen aus der Zeit Helmut Schmidts, war schon die Regierungspartei Joschka Fischers weit entfernt von der oppositionellen Basisbewegung. Mit einer erschreckenden Mechanik wiederholen die Grünen die Entwicklung der Sozialdemokratie. Sie sind, scheint’s, tatsächlich breit ins Bürgertum eingedrungen und haben sich dabei infiziert. Fritz Kuhn freut das. Müssen wir uns mit ihm freuen?

Die Wahrheit ist: Stuttgart ist heute genauso konservativ wie eh und je. Nicht die Wähler haben sich verändert, sondern die Sozialdemokraten und die Grünen. Holger Gayer sagt es ja selbst: »Die einstigen Außenseiter haben sich längst im Zentrum des Bürgertums breitgemacht.« Wo also wäre der Indikator dafür, daß Stuttgart und Baden-Württemberg nicht mehr klassisch konservativ seien?