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Titel2411

Der präsentable Neoliberalismus  (Susanna Böhme-Kuby)

Berlusconis Abtreten als Regierungschef war seit langem überfällig – schon als im Dezember 2010 sich sein Verbündeter Gianfranco Fini mit Anhängern vom gemeinsamen »Volk der Freiheit« (PdL) entfernte, sahen nicht wenige das politische Ende des Cavaliere nahe. Doch es gelang ihm noch fast ein weiteres Jahr lang wieder und wieder, seine hauchdünne Mehrheit im Abgeordnetenhaus aufzufüllen und sich von Vertrauensfrage zu Vertrauensfrage zu hangeln – um an der Macht zu bleiben und seine Immunität zu wahren – im Angesicht von derzeit vier laufenden Prozessen gegen ihn. Berlusconis Ignoranz des Ausmaßes der wirtschaftlichen Krisensituation des Landes ließ seit dem Sommer (s. »Ausverkauf in Italien«, Ossietzky 15-16/11) auch auf europäischer Ebene die Stimmen erstarken, die nach seiner Ablösung verlangten: Seitdem mehrten sich Spekulationen über eine eventuelle Fortsetzung der Legislaturperiode mit einem »Technokraten« an der Regierungsspitze, da eine Ablösung Berlusconis aus den eigenen Reihen nicht machbar war. Auch die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen kam ins Visier, deren Prognosen der Mitte-Links-Opposition in allen Koalitionsvarianten zunehmend einen deutlichen Vorsprung voraussagten. Die ermunternden Ergebnisse der Regionalwahlen und Referenden im Mai/Juni waren ein deutliches Signal in Richtung einer von den Italienern mehrheitlich erwünschten politischen Wende! Doch einer solchen Hypothese ließen die Herrschenden keinen Raum, einer solchen »Gefahr« wollen und können sich die politischen Lager in diesen Krisenzeiten offenbar nicht aussetzen. Dazu kommt, daß die stärkste Oppositionspartei der Demokraten (PD) programmatisch mehrfach in sich gespalten ist und sich bisher keiner ihrer Möchtegern-Kandidaten danach drängt, den Karren aus dem Sumpf zu ziehen. Nicht einmal über den Spitzenkandidaten besteht Einigkeit.

So war es denn der erneute Angriff der Finanzmärkte auf die italienischen Staatsschulden, der die Zinsen Anfang November über Nacht auf mehr als sieben Prozent anschwellen ließ und die Situation ins Rollen brachte: Die »Glaubwürdigkeit« Italiens gegenüber diesen Märkten müsse umgehend wiederhergestellt werden, so hieß es in den Medien. Noch einmal schlug die Stunde des Staatspräsidenten Napolitano, der letzten Institution, an die die Italiener – den Umfragen nach 81 Prozent – noch glauben. Der nahm nun eine eminent politische Aufgabe wahr: Über Nacht schlug er einen auf internationalem Parkett präsentablen Nachfolger für Berlusconi vor, den Europa- und Goldman-Sachs-gestählten Rektor der Mailänder Privat-Universität Bocconi: den Wirtschaftsexperten Mario Monti. Da mußte Berlusconi endlich zurücktreten; acht abtrünnige Parteifreunde waren bereit, ihm ihre Stimmen für seine absolute Mehrheit bei einer Parlamentsabstimmung am 8. November 2011 zu verweigern: »Verräter« nannte er sie und evozierte mit diesem Begriff durchaus eine Parallele zur Absetzung Mussolinis im Faschistischen Großrat am 25. Juli 1943. Doch Berlusconis Zukunft soll anders aussehen: In einer offiziellen Videobotschaft an die Nation verkündete er, »nur aus Verantwortung« beuge er sich der Staatsraison, verdopple nun aber seinen Einsatz für das Wohl des Landes – die nächsten Parlamentswahlen anpeilend, allerspätestens im Frühjahr 2013. Wie sagte doch Ossietzky einst über Hitler? »… Was der angerichtet hat, bleibt.«

Als Berlusconi nach seinem Rücktritt am Samstagabend (12.11.) den Quirinalspalast des Staatspräsidenten doch lieber durch die Hintertür verließ, jubelten zwar viele Menschen, die sich im Regierungszentrum Roms versammelt hatten, ein Chor stimmte gar Händels »Halleluja« an – doch insgesamt hält sich die Begeisterung über den von vielen langersehnten Moment des »Endes einer Epoche« in Grenzen: Denn politisch ist Berlusconi keineswegs besiegt, seine Medienmacht ungebrochen. Und die neue »technische« Regierung wird den neoliberalen Kurs nach Maßgabe der Europäischen Zentralbank noch verschärfen, den Berlusconi nicht mit dem nötigen Nachdruck verfolgt hat, weil er unpopuläre Maßnahmen scheute und lieber nichts tat. Offen ist, wie sich seine angeschlagene und auseinanderstrebende PdL neu formieren wird, die immer noch die stärkste Partei im Parlament ist. Auch in deren Brust wohnen viele Seelen und die absehbare Zuspitzung der sozialen Lage wird weiteres Terrain für die Formierung einer neuen Rechten bieten, erste Signale gibt es bereits. Auch die Lega Nord positioniert sich schon: Sie hat sich als einzige Partei Montis »großer Übereinkunft« aller anderen Parteien verweigert und steht allein in Opposition. Doch Monti benötigt die politische Unterstützung möglichst aller parlamentarischen Kräfte, um die angekündigten finanziellen und sozialen »Opfer« durchsetzen zu können und hätte gern die wichtigen Parteiführer in sein Kabinett geholt. Insofern ist seine Regierung keineswegs sachlich neutral, wie man glauben machen will, sondern eminent politisch. Erst als Berlusconi versuchte, seinen Staatssekretär Gianni Letta noch in die neue Exekutive zu lancieren, jedoch am Widerstand der PD scheiterte, wich Monti auf ein reines Experten-Kabinett aus: Die von 23 auf 17 reduzierten Namen der neuen Ministerliste waren bisher nur einer Minderheit vertraut. Es handelt sich um ausgewiesene Fachleute einer überwiegend neoliberal-konservativen, mit dem Segen des Vatikans versehenen Elite. Auf ihnen ruht nun die letzte Hoffnung der meisten Italiener. Immerhin bietet ihr schlichtes öffentliches Auftreten ein erholsames Bild gegenüber der Vulgarität der bisherigen Regierungsvertreter, aber das sollte nicht allzu sehr beruhigen. Mit Tucholsky (1929) gesagt: »Die Gefahr steckt vielmehr darin, daß in der allgemeinen Beruhigung ein ordentlicher glatter Nationalismus, ein sauber rasierter Kapitalismus, eine fein gebügelte Unterdrückung der Arbeiter überall zu spüren ist – auch in den Kreisen der bürgerlichen Intellektuellen.«

Wie weit und wie lange nun die komplexe Parteienlandschaft im Parlament die »kommissarische Diktatur der Banken« – wie sie von ganz links und ganz rechts bezeichnet wird – tatsächlich unterstützt und mit welchen realen Folgen für die Finanzlage, ist offen. Die PD geht zweifellos mit ihrem ostentativen nationalen Schulterschluß das größte Risiko im Hinblick auf nächste Parlamentswahlen ein. Die außerparlamentarische Restlinke bleibt weiterhin ohne Stimme außen vor. Landesweite Proteste und Streiks begleiteten die neue Regierungsbildung. Mit nächsten Turbulenzen darf gerechnet werden.