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Titel2412

Altersarmut – ein Armutszeugnis  (Christoph Butterwegge)

Für alte Menschen ist Armut besonders deprimierend, diskriminierend und demoralisierend, weil sie dadurch nicht bloß an Lebensqualität einbüßen, sondern ihnen nach dem Arbeitsleben auch die Würde genommen und ein gerechter Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten wird. Zudem wirkt Altersarmut als Druckmittel, Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument, das Millionen jüngere Menschen nötigt, härter zu arbeiten und einen wachsenden Teil ihres mühselig verdienten Geldes auf den Finanzmärkten in der trügerischen Hoffnung anzulegen, durch private Vorsorge einen weniger entbehrungsreichen Lebensabend verbringen zu können.

Im westdeutschen Nachkriegskapitalismus galt die Rente noch als »verdienter Lohn für Lebensleistung«, auf den man einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch hatte, um im Ruhestand keine Abstriche vom gewohnten Lebensstandard hinnehmen zu müssen. Seinerzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, das Rentenniveau zu senken, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen auch damals kontinuierlich stieg und sich die Finanzierung der Altersrenten daher trotz hoher Geburtenraten, die erst mit dem sogenannten Pillenknick gegen Mitte der 1960er Jahre einbrachen, immer schwieriger gestaltete. Damals gab es eine »Allparteienkoalition« der Sozialpolitiker/innen im Bundestag, was aber nicht mit grenzenloser Großzügigkeit ihrer Fraktionen zu erklären ist, sondern in der günstigen Konjunkturentwicklung, erfolgreichen Kämpfen der Gewerkschaftsbewegung unter Einschluß spontaner Arbeitsniederlegungen (Septemberstreiks 1969) sowie einer mittlerweile gefestigten Wohlfahrtskultur der Bundesrepublik begründet lag.

Zu einer historischen Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung führte die Weltwirtschaftskrise 1974/75. Seither fand mit Ausnahme einzelner Leistungsverbesserungen im Bereich der Familienpolitik und der Einführung der Pflegeversicherung kein weiterer Ausbau des sozialen Sicherungssystems mehr statt. Stattdessen wurden zahlreiche Transferleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft und Kontrollmaßnahmen intensiviert. Das gilt auch für die gesetzliche Altersvorsorge, deren Leistungsniveau schrittweise herabgedrückt wurde. Beispielsweise ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, ließ die Rente nach Mindestentgeltpunkten auslaufen, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise von 60 auf 65 Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind.

Der neoliberale Zeitgeist, die Wirtschaftseliten und die etablierten Parteien meinten es nicht gut mit Arbeitnehmer(inne)n und Senior(inn)en. Einerseits wurde der Arbeitsmarkt dereguliert und vornehmlich mittels der sogenannten Hartz-Gesetze ein breiter Niedriglohnsektor konstituiert. Das arbeitsrechtlich und tarifvertraglich geschützte Normalarbeitsverhältnis mit einer gut entlohnten Vollzeittätigkeit wurde durch atypische Beschäftigungsverhältnisse geschwächt: Mini- beziehungsweise Midijobs, Leiharbeit sowie Werk- und Honorarverträge prägen seither die Arbeitswelt, was erhebliche Konsequenzen für die Altersversorgung der dort Tätigen hat. Andererseits wurden die sozialen Sicherungssysteme zunehmend Markt-, also Leistungs- und Konkurrenzgesetzen, unterworfen.

Mit der nach dem früheren IG-Metall-Funktionär Walter Riester benannten Rentenreform war ein doppelter Paradigmenwechsel verbunden: Zum einen stand nicht mehr das für den Wohlfahrtsstaat nach 1945 jahrzehntelang konstitutive Ziel der Lebensstandardsicherung, sondern die angeblich über die Leistungsfähigkeit des »Wirtschaftsstandortes« entscheidende Beitragssatzstabilität im Mittelpunkt der Alterssicherungspolitik. Zum anderen brach nach der Pflegeversicherung nun auch ein »klassischer« Versicherungszweig mit dem Prinzip der paritätischen Finanzierung, wovon gleichfalls die Arbeitgeber profitierten. Auch die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre war eine verkappte Rentenkürzung, zwingt sie doch mehr Arbeitnehmer/innen, mit bis zum Lebensende wirksamen Abschlägen in den Ruhestand zu gehen.

Gerechtfertigt wurden sämtliche Reformen, durch die das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um rund ein Viertel gesenkt wird, mit dem demografischen Wandel und mangelnder »Generationengerechtigkeit«, obwohl besonders künftige Rentnergenerationen darunter zu leiden haben dürften. Versicherungskonzerne, Großbanken und Kapitalanlagegesellschaften machten sowohl durch Lobbyarbeit im politisch-administrativen Raum als auch durch professionelle Medienkampagnen einerseits Stimmung gegen das umlagefinanzierte Rentensystem und propagierten andererseits die kapitalfundierte Altersvorsorge als einzig mögliche Antwort auf die vermeintlich krisenhafte demografische Entwicklung.

Altersarmut ist kein Zufallsprodukt, sondern politisch erzeugt und insofern funktional, als sie hauptsächlich Opfer von Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes beziehungsweise zur Restrukturierung des Sozialstaates und solche Menschen trifft, die für den Wirtschaftsstandort »nutzlos«, weil angeblich unproduktiv beziehungsweise wirtschaftlichen Verwertungsinteressen nicht oder nur schwer zu unterwerfen sind. Ältere haben im neoliberalen Gesellschaftsentwurf keine positive Funktion, werden vielmehr als »Kostenfaktoren auf zwei Beinen« betrachtet und im »aktivierenden«, das heißt Hilfebedürftige nicht ohne entsprechende Gegenleistung alimentierenden Sozialstaat entsprechend behandelt. Umso notwendiger ist eine grundlegende Kurskorrektur, soll die Fundamentalnorm unserer Verfassung, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, ihre Geltung behalten und die Gesellschaft keine inhumane Entwicklung nehmen.

Soeben erschienen: Christoph Butterwegge: »Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung«, Campus Verlag, 393 Seiten, 19,90 €