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Titel2415

Eine unendliche Geschichte  (Till Müller-Heidelberg)

Wer kennt sie nicht, »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende, überbordend vor Phantasie und Kreativität, gleichzeitig spielerisch und tiefgründig, spannend für Kinder und Erwachsene. Hat man erst einmal mit dem Lesen begonnen, lassen einen die gut 400 Seiten nicht mehr los.

Wie anders die unendliche Geschichte des Rolf Gössner. 2000 Seiten Personenakte des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Von Spannung keine Rede schon deshalb, weil nur 11,25 Prozent der Akte dem vom »Verfassungsschutz« beobachteten Rolf Gössner, der auf Auskunft über seine gespeicherten Daten geklagt hatte, zugänglich gemacht wurden; die übrigen 88,75 Prozent waren als geheimhaltungsbedürftig gesperrt und wurden nicht herausgegeben oder waren geschwärzt. Von einem packenden Lesegenuss kann also nicht gesprochen werden.


Phantasie und Kreativität jedoch kann man dem »Verfassungsschutz« nicht absprechen. Denn nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes haben Verfassungsschutzbehörden die Aufgabe, Informationen, Nachrichten und Unterlagen »über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind« – verkürzt ausgedrückt: über verfassungsfeindliche Bestrebungen – zu sammeln und auszuwerten. Über Rolf Gössner wurde in die Verfassungsschutzakten aufgenommen, dass er Bücher geschrieben hat wie »Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der Vereinten Nationen«, »Boykott 83/Volkszählung«, »Vom Rechtsstaat zum Polizeistaat?« oder »Im Schatten des Rechts – der 4. Geheimdienst«. Es gehört in der Tat schon viel Phantasie dazu, solche Schriftwerke als verfassungsfeindliche Bestrebungen zu erkennen und zum Beobachtungsobjekt des »Verfassungsschutzes« zu machen!


Auch an Kreativität mangelt es dem »Verfassungsschutz« nicht. Denn nach § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes dürfen nur »Bestrebungen« beobachtet werden. Zur Sammlung von Informationen über Personen ist nach § 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes erforderlich, dass diese Personen solche »Bestrebungen nachdrücklich unterstützen«. Rolf Gössner war nach der ausdrücklichen Erklärung des »Verfassungsschutzes« nie selbst ein Verfassungsfeind und nie Teil einer verfassungsfeindlichen Bestrebung. Aber er habe solche Bestrebungen nachdrücklich unterstützt, was die Sammlung von Informationen und seine geheimdienstliche Beobachtung rechtfertige: Hat er doch tatsächlich die Aufhebung des KPD-Verbots gefordert, für die Abschaffung des Verfassungsschutzes plädiert und ist gegen die Berufsverbote aufgetreten, eine Forderung, die sich auch im Parteiprogramm der KPD fand. Folglich hätte er eine verfassungsfeindliche Bestrebung nachdrücklich unterstützt. Dass etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 1995 die Berufsverbote für menschenrechtswidrig erklärt hat, ändert daran nichts. Auch hat Rolf Gössner von 1986 bis 1999 der Redaktion der Zeitschrift Geheim angehört. Schon der Titel der Zeitschrift verweise auf ein propagandistisches SED-Buch »Nicht länger geheim«, und im Übrigen sei (ohne Kenntnis von Rolf Gössner) ein Redaktionsmitglied dieser Zeitschrift auch gleichzeitig DKP-Mitglied gewesen. Folglich habe Gössner durch seine Mitarbeit in der Redaktion Geheim und durch seine Artikel in der Zeitschrift verfassungsfeindliche Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Mangelnde Kreativität in seinen Gedanken und Begründungen für sein Handeln kann man dem »Verfassungsschutz« nicht vorwerfen.


40 Jahre lang beobachtete der »Verfassungsschutz« Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Journalist, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Stellvertretendes Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofes, Sachverständiger im Bundestag und in Landtagen, und erstellte über ihn eine 2000seitige Personenakte. 2005 reichte Gössner Klage auf Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten ein. Der Vorgang entwickelte sich zu einer unendlichen Geschichte, die nunmehr durch Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober fortgeführt wird. Zwar erklärte aufgrund von Gössners Klage das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits am 13. November 2008, dass nunmehr seine andauernde Beobachtung eingestellt werde, und am 3. Februar 2011 stellte das Verwaltungsgericht Köln (Az. 20 K 2331/08) auf Antrag von Gössner fest, dass seine Beobachtung durch den »Verfassungsschutz« von Anfang an (!) rechtswidrig gewesen war. Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz gab nicht auf. Das Urteil wurde vielfach als Sieg des Rechtsstaats über den »Verfassungsschutz« gefeiert, und das Verwaltungsgericht Köln hatte die Berufung nicht zugelassen, aber der Verfassungsschutz mochte sich damit nicht zufrieden geben. Mit einem weit über 100seitigen Schriftsatz vom 15. Mai 2011 beantragte der »Verfassungsschutz« beim Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster die Zulassung der Berufung. Darüber brütete das OVG viereinhalb Jahre lang und ließ die Berufung nunmehr durch Beschluss vom 24. Oktober 2015 zu – zehn Jahre nach Beginn des Rechtsstreits.


Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 17. September 2013 die verfassungsschützerische Beobachtung von Bodo Ramelow (seinerzeit Partei- und Fraktionsvorsitzender der Linken in Thüringen, mittlerweile Ministerpräsident) für verfassungswidrig erklärt hatte, fragte der Senat des OVG Münster allerdings zuvor beim »Verfassungsschutz« an, ob er denn wirklich trotzdem seinen Antrag auf Zulassung der Berufung weiter verfolgen wolle; das OVG ließ also durchaus Zweifel an der Sinnhaftigkeit erkennen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz jedoch, vertreten durch den Rechtsanwalt Roth, blieb eisern. Es will nicht auf sich sitzen lassen, 40 Jahre lang rechtswidrig und von vornherein ohne jeglichen Anlass Rolf Gössner beobachtet zu haben, zumal dies zwar im Umfang der Zeitdauer einmalig sein mag, keinesfalls jedoch vom Grundsatz her, dass Bürgerinnen und Bürger allein wegen ihrer kritischen Einstellung und somit rechtswidrig Beobachtungsgegenstand des »Verfassungsschutzes« sind.


Die unendliche Geschichte dieses Rechtsstreits geht also weiter. Die Zulassung der Berufung ist nach § 124 Verwaltungsgerichtsordnung möglich wegen grundsätzlicher Bedeutung, wegen ernsthafter Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils sowie wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten. Auf alle Gesichtspunkte hat der »Verfassungsschutz« seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gestützt. Einen Lichtblick in dem Zulassungsbeschluss des OVG mag man darin sehen, dass dieses die Berufung nicht zugelassen hat »wegen ernsthafter Zweifel an der Richtigkeit des Urteils«, sondern »nur« wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten. Es bleibt nun abzuwarten, wann es endlich weitergeht und diese unendliche Geschichte zu einem rechtsstaatlich hoffentlich positiven Ende kommt.

Till Müller-Heidelberg, langjähriger Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, gibt den alljährlich erscheinenden »Grundrechte-Report« mit heraus.