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Titel2419

Nass in Ningbo  (Frank Schumann)

Smoke on the water: Selbst in der Hafenstadt Ningbo trübte Smog die Sicht, als die Maschine aus Beijing landete. Es hieß, der Wind wehe aus West, also ablandig, keine frische Luft von See in Sicht. Am nächsten Morgen jedoch war der Blick aus der 17. Etage frei. Aber was heißt frei? Er reichte nur bis zu den nächsten Hochhaustürmen. Laut Statistik sei in China allein zwischen 2011 und 2013 mehr Beton verbaut worden als in den USA im gesamten verflossenen Jahrhundert. Das war nicht zu übersehen.

 

Nicht nur beim Blick aus dem Hotelfenster.

 

Die Straßen durchschnitten die Luft in mehreren Ebenen. Selten waren sie weniger als drei Autospuren breit. Daneben, abgetrennt durch Planken, liefen oft weitere zwei schmale Streifen für Motorroller und Fahrräder. Doch nicht die vielen Fahrzeuge sorgten für die schlechte Luft. Das taten die vielen Industriebetriebe. Irgendwo müssen die Leute ja arbeiten. Ningbo zählt fast doppelt so viele Einwohner wie Berlin. Inzwischen haben die Chinesen jedoch gelernt und sind auch im Umweltschutz zum Vorreiter geworden. Mülleimer am Wegesrand gab es nur im Doppelpack – links Recyclebares, rechts Abfall. Und die Museums- und Ausstellungshallen, die ich später neugierig durcheilte, verfügten zwar über Garderoben, aber vernünftiger schien es, die Jacke anzubehalten. Nicht nur aus Kostengründen wurde hier weniger geheizt. Zur Erderwärmung trägt bekanntlich auch die Erwärmung der Erde bei.

 

Der Anlass für die Visite war ein internationales Forum unter dem Titel »The Chinese Path and Community of Shared Future for Mankind«, was man vielleicht mit »Der chinesische Weg und die gemeinsame Zukunft der Menschheit« übersetzen kann. Verschiedene gesellschaftswissenschaftliche Forschungseinrichtungen der Universität Ningbo hatten Vertreter von drei Kontinenten eingeladen, ihre Sicht auf die Welt und auf China mitzuteilen. Die Veranstalter baten mich als den einzigen Vertreter aus dem Mutterland von Marx, etwas über den Untergang des Sozialismus in Europa zu sagen. In dieser Aufforderung schwang der Wunsch mit, zu erfahren, woran es denn gelegen habe, wohl um nicht die gleichen Fehler zu begehen. Mir schien, dass sie derlei Hinweise nicht nötig hatten, weil die Chinesen den entscheidenden Irrtum – dank Deng – schon lange korrigiert haben: nicht nur über die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu reden, sondern sie tatsächlich zu organisieren. Das A und O ist nun mal die Ökonomie.

 

Die Vorträge und Diskussionen waren höchst anregend und konstruktiv. Sie sollen und können hier nicht repetiert werden, nur so viel: Das von den internationalen wie auch den chinesischen Teilnehmern gezeichnete Bild wich erheblich ab von den Darstellungen der Volksrepublik, die beispielsweise in den hiesigen, also in den deutschen Medien verbreitet werden. Vielleicht lag es daran, dass die Diskutanten wussten, worüber sie redeten, und hinlänglich dafür qualifiziert waren. Das unterschied sie erkennbar von den meisten Journalisten, die sich über China verbreiten. (Tage später, wieder in Beijing, begegnete mir ein deutscher Ethik-Professor, der in China liest und das Land kennt. Er vermochte seinen Unmut über die Berichterstattung insbesondere über Hongkong kaum zu zügeln. Er kam nämlich gerade von dort. Die Haltung der meisten Journalisten sei herablassend, ideologisiert und zudem von Unwissen bestimmt, empörte er sich. Randalierer würden zu Rebellen verklärt, die angeblich für Freiheit und Demokratie demonstrierten. Die tatsächlichen sozialen und politischen Gründe blieben unerwähnt, weil ignoriert oder unerkannt. Oder, und das halte er für wahrscheinlich: Die Berichterstatter bedienten, freiwillig oder genötigt, eine ziemlich einseitige Erwartungshaltung ihres Arbeitgebers.)

 

Am Vorabend der Konferenz gab es eine individuelle Besichtigung der Altstadt. Und obgleich es aus Kannen goss, hielt die Betreuerin, die mich und meinen chinesischen Freund begleitete, ungerührt an dem Programmpunkt fest. Das, so flüsterte mir mein Freund ins Ohr, sei eine typisch chinesische Eigenschaft: mangelnde Flexibilität.

 

Er meine das gewiss ironisch, entgegnete ich, seine Landsleute bewiesen doch seit Jahren eine erstaunliche Flexibilität beim Umgang mit den globalen Veränderungen. Dabei sei nicht minder hilfreich das stoische Festhalten an politischen Prinzipien in einer chaotischen Welt, sie sorgten für Berechenbarkeit und Verlässlichkeit.

 

Auf der großen Bühne mag das wohl so sein, sagte er und schaute auf sein Beinkleid. Auch meine Hose war, trotz Regenschirm, schon bis zu den Knien durchnässt. Doch nein, wir setzten unseren Weg gemäß dem Wunsche unserer Führerin fort, nachdem wir die Ling-Brücke passiert hatten. Die heiße bei den Anwohnern nur Siemens-Brücke, weil sie in den späten dreißiger Jahren von eben jener Siemens AG errichtet worden und die einzige Dreigelenk-Stahlbogenbrücke in ganz China sei, erklärte sie. Die Brücke stehe nicht nur unter Denkmalschutz, sondern über sie führe seit mehr als siebzig Jahren die verkehrsreichste Straße der Stadt. Nach mehreren Schiffskollisionen, extremem Verschleiß und nagendem Rost hätten die deutschen Eigentümer (!) bei ihren regelmäßig vorgenommenen Prüfungen nach siebzig Jahren die Sperrung verfügt. Doch seit 2014 saniere die Stadt bei laufendem Betrieb, um die verkehrstechnische und kulturelle Funktion der Brücke zu erhalten.

 

Wir flüchteten uns in die katholische Kathedrale am Ufer des Yongjiang, da war es wenigstens trocken. Gerade fand die Abendmesse statt. Das ungewöhnlich schmucklose und ganz in Weiß gefasste Gotteshaus war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Grund der auffälligen Schlichtheit: Vor fünf Jahren brannte das Wahrzeichen der Stadt von 1713 aus bisher ungeklärten Gründen aus wie Notre Dame in Paris.

 

Eine freundliche Seele registrierte unsere neugierigen Blicke und bot Aufklärung an. Ja, dieses Gotteshaus sei eine der ältesten katholischen Kirchen Chinas, zur Gemeinde zählten an die fünftausend Christen, die hiesige evangelische Gemeinde sei jedoch erheblich größer. Und in ganz China? Sie hob die Handflächen gen Himmel. Vielleicht über fünfzig Millionen, manche meinen auch hundert Millionen Christen beider Großkirchen.

 

Hinter ihrem Rücken warfen die vier jugendlichen Ministranten nach getaner Arbeit ihre grün-weißen Talare von sich, während der Priester vorn am Altar in der Liturgie fortfuhr. Sein Text lief auch auf einem Dutzend Riesenmonitoren, die die Säulen zierten.

 

Draußen pladderte es noch immer. Statt in die Altstadt-Gasse (»Nantang Old Street«), die gleich neben der Kirche ihren Ausgang nahm und wie die Krämerbrücke in Erfurt ausschaute, bogen wir nach rechts zum Fluss. Unter der Brücke trommelte und sang eine dreiköpfige Band, umrundet von wenigen jungen Leuten. Unsere Begleiterin beeilte sich zu versichern, dass hier immer Straßenkonzerte stattfänden, allerdings sei der Zuspruch erheblich größer, wenn es nicht regnete. Das glaubten wir unbesehen ...

 

Am der Konferenz folgenden Tage fuhr man uns auswärtige Gäste an verschiedene Plätze, die gewissermaßen mit dem Inhalt der Tagung korrespondierten. Da war zunächst das Ningbobang-Museum, ein architektonisch interessanter Neubau, den die Wirtschaftskapitäne der Stadt hatten errichten lassen. Ihre Bronze-Büsten waren im Foyer aufgereiht – neben einem Marmorblock am Eingang, in den ein Appell von Deng gemeißelt war. »Mobilize all the Ningbobang in the world for the modernization drive of Ningbo«, stand dort in goldenen Lettern und chinesischen Schriftzeichen, was sinngemäß so viel hieß, dass es den ganzen Geschäftssinn der Welt für den Entwicklungsschwung in Ningbo zu nutzen gelte. In den einzelnen Abteilungen und auf verschiedenen Ebenen war die Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Stadt anschaulich dargestellt, museumstechnisch sehr originell und erstaunlich unideologisch – sieht man mal von dem Rolls Royce ab, den Deng einem führenden Lokalpolitiker zum Geschenk gemacht hatte und der von weiteren namentlich aufgeführten Kommunal- und Parteipolitikern gefahren worden ist. (»This car recorded many historic moments.«)

 

Der Vergangenheit schloss sich die ökonomische Gegenwart an. Der Bus fuhr uns ans Meer, wo sich die Container bis zum Horizont stapelten. In der Hitparade der weltweit größten rangiert dieser Hafen auf Platz sechs. Die Liste führt der Containerhafen von Shanghai an, keine hundert Kilometer von hier und über die längste Seebrücke der Welt (fast 37 Kilometer quer über die Hangzhou-Bucht) zu erreichen. Wo man stand und fuhr: Superlative ohne Ende, die sich einem gleichermaßen unaufgeregt wie beiläufig ins Blickfeld drängten. Von hier aus gingen also die Metallkästen mit in Ningbo und an anderen Orten produzierten Industriegütern in alle Welt.

 

Einen Betrieb, wo das Frachtgut herkam, besichtigten wir anschließend.

 

Er befand sich in einem Industriegebiet am Rande der Stadt und gehörte gewiss nicht zu den Umweltverschmutzern. Kein Schornstein weit und breit auf dem Produktionsgelände, das sich über rund zwanzig Fußballfelder erstreckte. Das Firmenlogo erinnerte an das SED-Abzeichen, und der eher unchinesische Name Amico deutete auf einen Globalplayer. Unter den Abnehmern von Badezimmerarmaturen und Industrieventilen befanden sich, wie wir hörten, auch etliche deutsche mit bekanntem Namen. Weltweit habe das Unternehmen mehr als 1300 Kunden, was selbst für China einen Spitzenwert darstelle.

 

Beim Rundgang begegneten uns nur wenige Menschen. Sie achteten darauf, dass den Robotern nicht der Nachschub ausging oder diese den Geist aufgaben. Arbeit ohne Arbeiterklasse. Worauf, so fragte ich, stütze sich die Partei? Von deren Präsenz kündeten vermutlich die weißen Schriftzeichen auf rotem Tuch, welche da und dort in den blitzsauberen, aber lauten Produktionshallen zu sehen waren.

 

Das Privatunternehmen beschäftige neunhundert Mitarbeiter, fast jeder vierte habe einen Hochschulabschluss, sagte man uns. Oben, in der ersten Etage, wo die Leiter und Buchhalter hinter großen Scheiben tätig waren, befand sich neben dem Raum mit der Tischtennisplatte auch einer, der offensichtlich vorrangig von den Genossen genutzt wurde. Zumindest deutete die vermehrte Zahl an Fahnen und anderen politisch konnotierten Devotionalien darauf hin.

 

Nach dem insofern bemerkenswerten Rundgang, als an keiner Stelle irgendjemand Einspruch erhob, weil die Nasen zu neugierig und zu tief in die mehrheitlich aus Europa stammenden Werkzeugmaschinen gesteckt wurden, schüttelte eine junge Chinesin die wesentlichen Betriebsinformationen auf Englisch aus dem Ärmel. Sie nannte die Produktionszahlen, die seit Firmengründung in den neunziger Jahren nur eine Entwicklungsrichtung kannten. Im Jahr 2030 wolle man drei Milliarden Renminbi oder Yuan Umsatz machen, was 300 Millionen Gewinn für das Unternehmen heiße ... Jede Silbe strotzte vor Selbstbewusstsein, kein Anflug von Zweifel, dieses mittelfristige Ziel zu erreichen.

 

Nach Vergangenheit und Gegenwart warfen wir einen Blick in die Zukunft der Stadt. Diese zeigte sich in einem futuristischen Bau, den ein Berliner und ein Münchner Architekturbüro, playze und Schmidthuber, als Wettbewerbssieger entworfen hatten. Das Ausstellungsgebäude wuchs in die grüne Umgebung hinein und erhob sich über mehrere Etagen, die man von außen allerdings kaum wahrnahm. Außen wie innen wanden sich Schrägen hinauf und hinab, nirgends eine gerade Kante, alles floss ineinander. In der Fassade aus glasierten Keramikpaneelen – Ningbo blickt auf eine jahrhundertelange Töpfereigeschichte zurück – spiegelten sich die umliegenden Wasser. Geschickt wurden Tradition und Moderne miteinander verwoben, viel Geld und reichlich Geist kreierten einen fantastischen Bau. Unschuldig weiß im Innern, einziger und bestimmender Farbtupfer im Atrium die rote Fahne mit den fünf Sternen.

 

In den Räumen demonstrierte man, was digitale Technik inzwischen zu leisten fähig ist und noch leisten wird. Und: Ein Stadtmodell mit Hochhäusern vorm Fenster, hinter dem die reale Stadt bereits in die Höhe gewachsen war. Drinnen und draußen, Zukunft und Gegenwart. Die Stadtgeschichte wurde verlebendigt in unterschiedlichen Installationen und Videoprojektionen, es flimmerte, säuselte, ratterte, donnerte, virtuelle Wasserfälle rauschten hinab und Düsenjets stiegen hinauf. Aber das alles dosiert und nahezu unaufdringlich, nichts erinnerte an einen lärmenden Rummel oder eine kreischende Spielhalle. Die perspektivischen Projektionen waren zudem von einer Zuversicht und einem Optimismus durchdrungen, dass es uns als naturgemäß grüblerische und zweifelnde Europäer den Atem verschlug. Die Furcht vor der Zukunft, die uns alle mehr oder minder beherrscht, scheint den Chinesen fremd. Sie zeichnen das Bild einer grünen und gerechten, harmonischen Welt. Wenig Illusion, viel Zuversicht und die feste Überzeugung, dass die Menschheit dahin kommen werde.

 

Am Ende wäre ich fast noch unter die Räder der Zukunft gekommen. Unterwegs auf dem Campus zum Essen in der Mensa begleitete uns nur der Gesang der Vögel. Bis es hinter mir laut hupte und Reifen quietschten. Alle Fahrzeuge verkehrten lautlos elektrisch. Man hörte sie einfach nicht. Die stille Stadt, die jedoch niemals schläft ...

 

Ein Traum. In Ningbo zumindest punktuell bereits Wirklichkeit.