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Als Gastdozent in China  (Heinrich Peuckmann)

Private Universitäten haben in Deutschland den Ruf, Bildungsstätten der Elite zu sein. Entsprechend weisen Absolventen in ihren Bewerbungsschreiben gern auf solche Studienabschlüsse hin. In China ist das nicht durchgängig so. Dort gibt es private Universitäten mit hohem Niveau, aber auch solche, die im Vergleich zu den staatlichen zweite Wahl sind. Studenten gehen zu solchen Unis nur, wenn sie an einer normalen keinen Studienplatz erhalten haben.

 

Wie in Deutschland sind private Universitäten auch in China teurer. 10.000 Yuan (etwa 1200 Euro) kostet das Studium pro Jahr, etwa doppelt so viel wie an einer staatlichen Einrichtung. Viel Geld für eine chinesische Familie, allerdings gibt es Stipendien.

 

Welche Uni jemand besuchen darf, entscheiden die großen, landesweiten Prüfungen nach dem Abschluss der Oberschule. In vier Fächern werden die Kandidaten geprüft: Chinesisch, Englisch, Mathematik, dazu entweder eine Geisteswissenschaft (etwa Erdkunde) oder eine Naturwissenschaft (Physik, Chemie). Pro Fach sind 150 Punkte erreichbar, 470 Punkte benötigt man für die Zulassung zur Uni, also in drei Fächern eine Zwei, im vierten kann man etwas schwächer sein.

 

Danach darf man sich bewerben, darf, je nach Höhe der Punktzahl, das Studienfach benennen und die Uni, an der man am liebsten studieren würde. Wer für eine staatliche Bildungseinrichtung zu wenig Punkte erreicht, dem bleibt der Weg auf die Privatuni. Es gibt aber auch gute Studenten, die alles auf eine Karte setzen, nur ein ambitioniertes Studienfach und eine Uni angeben – und wenn sie dann nicht reinrutschen, ebenfalls nur noch den privaten Weg wählen können.

 

Ich habe an beiden Universitätstypen mehrfach als Gastdozent »Deutsche Literatur« unterrichtet und hatte immer spannungsreiche Wochen mit unvergesslichen Erlebnissen.

 

Besonders interessant war die Privatuni »Fanyi« in einem Dorf in der Nähe der alten Kaiserstadt Xi´an. 20.000 junge Menschen studieren dort, darunter etwa tausend Germanistikstudenten. Gegründet wurde die Einrichtung von Herrn Ding, der 1987 ein verlassenes Fabrikgebäude in dem Dorf kaufte und die Uni nach und nach zu dem riesigen Komplex ausbaute, der den Besucher in Staunen versetzt. 2011 schenkte er sie dem Staat, machte seine Tochter zur Chefin und starb kurz darauf. »Fanyi« ist also inzwischen so etwas wie eine halbstaatliche Uni.

 

Chinesische Universitäten sind Campusunis. Die Studenten wohnen in Wohnheimen auf dem Gelände, acht Studenten in einem Zimmer, Vorlesungs- und Seminarräume befinden sich direkt nebenan, selbstverständlich auch Bibliotheken und eine riesige Mensa. Das Essen ist preiswert und nahrhaft. Als Dozent hätte ich stets in gesonderten Räumen essen können, aber ich setzte mich gern zu den Studenten und holte mir das normale Mensaessen.

 

»Fanyi« verfügt außerdem über ein großes Stadion für die Sportstudenten. Es würde jedem Drittligisten im deutschen Fußball alle Ehre machen. Dort findet das jährliche Sportfest statt, an dem alle Fakultäten mit einer Mannschaft teilnehmen. Wie die Nationen bei den Olympischen Spielen marschieren die einzelnen Fakultäten ein, darunter zu meiner Überraschung eine Mannschaft aus deutlich älteren Männern und Frauen. Es war die Dienstleistungsmannschaft, waren die Reinigungskräfte, die Mensa- und Bibliotheksangestellten. Auch sie gehören, wurde mir stolz gesagt, zum Uniteam.

 

Direkt nebenan gibt es ein Fahrgelände, wo man den Führerschein machen kann.

 

Inzwischen ist »Fanyi« so groß, dass es zwischen der Hauptstraße des Dorfes und dem angrenzenden Gebirge keinen Platz mehr für neue Gebäude gibt. Deshalb musste sich der Campus auf die andere Straßenseite ausweiten. Die Fanyi-Studenten sollen aber während der Woche das Unigelände nicht verlassen, sondern sich ganz auf das Studium konzentrieren, weshalb es eine Brücke über die Hauptstraße gibt, so dass die Studenten das mit Zäunen umgrenzte Gelände nicht verlassen müssen. Im Prinzip ist das auch nicht nötig, es gibt gut sortierte Lebensmittelgeschäfte, in denen man alles, nur keine Zigaretten kaufen kann. Diese Praxis hat einen faden Beigeschmack.

 

Rauchen ist auf dem Unigelände verboten. Auch dafür gibt es jedoch eine Lösung. Dorfbewohner warten schon, dass ein Student ans Gittertor tritt, ihnen ein paar Yuan in den Hand drückt, für die sie dann Zigaretten kaufen. Trinkgeld inbegriffen. Die Wachleute am Eingang übersehen es.

 

Bei meinen Vorlesungen saßen stets etwa 200 Studenten vor mir. Sie hatten seit drei Jahren Deutschunterricht, mit der Grammatik (der Deklination) noch Probleme, aber in der Rechtschreibung waren sie unglaublich sicher. An deutschen Gymnasien habe ich da noch in der Mittelstufe ganz andere Erfahrungen machen müssen.

 

Ich musste bei meinen Vorträgen langsam und überbetont deutlich sprechen, dann wurde ich ganz gut verstanden, wie meine Nachfragen am Ende der Veranstaltung bewiesen.

 

Chinesische Studenten sind fleißig, denkt man. Der Druck ist groß, ihre Eltern sind zu großen Opfern bereit. Da muss es klappen mit dem Studium, nicht zuletzt verlieren Familie und Student im Falle des Scheiterns »ihr Gesicht«. Aber zuletzt machte ich auch andere Erfahrungen. Bei manchen Vorlesungen, bemerkte ich, waren die Studenten in den beiden letzten Reihen mit ihrem Handy beschäftigt, spielten, verschickten eine SMS. Als ich den Professoren meine Verwunderung ausdrückte und sagte, dass mein Sohn, würde er mit dem Handy in einem Seminar erwischt, sofort den Raum verlassen müsste, staunten sie. »Wir dachten, ihr Deutschen seid so locker.« Ich war mir nicht sicher, wie ich das bewerten sollte, und entschied mich, es positiv zu sehen. So groß ist der Druck in China dann doch nicht, dachte ich.

 

Chinesische Studenten sind anders, stellte ich im Laufe der Jahre in meinen Seminaren fest. Ich bemühte mich immer um einen lockeren Tonfall, um ironische Wendungen, humorige Einschübe, die die Aufmerksamkeit steigern und wodurch den Zuhörern, wie ich in vielen Jahren als Lehrer feststellen konnte, die Fakten länger im Gedächtnis bleiben. Bei meinen ersten Seminaren wunderte ich mich, dass die Studenten gar nicht lachten, selbst als ich einen kleinen Gag wiederholte und sicher war, dass sie ihn verstanden hatten. Erst als ich ihnen zwei Wochen später mitteilte, dass meine heutige Veranstaltung die letzte sei und ich am folgenden Tag nach Hause fliegen würde, drückten sie ihr Bedauern aus. Das sei aber schade, sagten sie, es wäre bei mir doch immer so lustig gewesen. Nach einigen China-Aufenthalten kenne ich jetzt die Hintergründe: Die Studenten lachten nach innen, offen darf ein chinesischer Schüler oder Student nicht über seinen Lehrer lachen. Das wird als respektlos verstanden. Bei mir hätten sie es ruhig machen können, aber das wussten sie natürlich nicht.

 

In den Zusammenhang passt auch eine Erfahrung, die ich mal bei einer Lesung aus meinen Büchern im Auftrage des Goethe-Instituts in Xi´ans riesiger Bibliothek machte. Nach der Lesung meiner Texte bat ich um Fragen, Professoren, meine Studenten und andere Leute mit Deutschkenntnissen waren unter den Zuhörern. Die Professoren fragten etwas, ich antwortete, dann trat eine Pause ein, ich bat um weitere Fragen, aber es blieb still. Genau in dem Moment, als ich die Veranstaltung mit Bedauern beenden wollte, meldete sich der erste Student. Danach gab es ein munteres, langes und auch für mich anregendes Gespräch. Auch hier hatte ich mal wieder nicht die chinesische Mentalität bedacht. Die Professoren haben den Vortritt. Erst als die Studenten sicher waren, dass von den Hochschullehrern keiner mehr eine Frage hatte, waren sie an der Reihe.

 

Wenn ich mit Studenten auf dem Unigelände zusammensaß, waren sie immer zutraulich, stellten alle möglichen Fragen und baten mich um Rat, selbst bei privaten Problemen, was ich als eine kleine Bestätigung meiner Arbeit empfand.

 

Aber auch bei Sachproblemen sollte ich helfen und konnte dabei feststellen, dass manche Seminararbeit, die sie schreiben müssen, es wirklich in sich hatte.

 

Ob ich ihr bei einem schwierigen Thema Rat geben könne, fragte mich eine Studentin aus dem vierten Jahrgang mal, und großspurig hatte ich sofort zugestimmt. Na klar, warum nicht? Welchen Einfluss Thomas von Aquin auf die deutsche Romantik hatte, musste sie bearbeiten, ob ich ihr dazu etwas sagen könne. Ich musste schlucken, mit so einem Thema hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ein bisschen konnte ich dann doch erzählen, aber die Themen, die den Studenten gestellt werden, weiß ich seitdem, haben stets einen hohen Anspruch. Und ideologisch platt, wie man das China immer unterstellt, sind sie auch nicht.

 

Manche der Studenten, stellte ich im Laufe der Jahre fest, wohnen weit weg von ihren Eltern. Von Xi´an bis in die innere Mongolei, woher einer meiner Studenten kam, fährt man mit dem Zug fast vierzig Stunden. Seine Eltern sah er höchstens einmal im Jahr. Eine andere Studentin weinte mal in meinem Seminar. Ihre Mutter lag im Sterben, erzählte sie mir in der Pause. Doch fehlte ihr das Geld für die lange Reise in den Süden, die fast zwei Tage gedauert hätte. Sie hat ihre Mutter wohl nie wiedergesehen.

 

Heimweh ist ein Gefühl, das viele der Studenten kennen, nicht verwunderlich unter diesen Bedingungen. Ich konnte es aus den Texten meiner Kursteilnehmer lesen, als ich sie mal – nach Anleitung – bat, Gedichte zu schreiben. Die Melancholie und die Metaphorik der wirklich anspruchsvollen lyrischen Texte waren beredt. Manches, was für chinesische Studenten selbstverständlich ist, können sich deutsche Studenten nicht mal denken, merkte ich. Was in manchen Punkten auch gut so ist.

 

Ein trauriges Kapitel sind allerdings die deutschen Firmen. Immer wieder zeigten mir die Germanistikprofessoren Stellenausschreibungen deutscher Firmen, die sie ans Infobrett der Fakultät heften. VW, Siemens, sie alle suchen Arbeitskräfte. Ein Einstellungskriterium sind gute Englischkenntnisse, damit ihre Mitarbeiter, wie es da steht, mit der Zentrale in Deutschland kommunizieren können. Ich verstehe dann den traurigen Blick meiner Freunde. Warum unterrichten wir sie dann in Deutsch, wenn deutsche Firmen das gar nicht brauchen?

 

Franzosen sind da anders, selbstverständlich müssen Bewerber bei ihren Firmen Französisch sprechen. Unser gebrochenes Selbstbewusstsein nach dem entsetzlichen Faschismus verhindert bis heute ein entspanntes Verhältnis zur eigenen Kultur und Sprache. Dabei ist das Interesse daran im Ausland, gerade auch in China, groß.

 

Inzwischen weiß ich, welche Themen chinesische Germanistikstudenten am meisten interessieren. Die deutsche Romantik kommt immer gut an, der Rhythmus eines Eichendorff-Gedichts berührt sie. Goethe ist wichtig, aber auch die Gegenwartsliteratur. Einmal musste ich Professoren und Studenten das israelkritische Gedicht von Günter Grass erklären. Sie waren irritiert und wollten wissen, warum es in Deutschland so hohe Wellen schlug.

 

Es ist für mich ein schönes Gefühl zu wissen, dass auf der anderen Seite der Erdkugel junge Leute herumlaufen, denen ich deutsche Literatur ein wenig nahebringen konnte. Manche von ihnen melden sich bis heute per Mail bei mir und berichten »ihrem Lehrer« brav, was sie zuletzt an anspruchsvollen Texten gelesen haben. Dann staune ich und denke, ob deutsche Germanistikstudenten das wohl auch lesen?