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Titel2511

»Krieg der Welten«  (Christophe Zerpka)

Als Orson Welles am 30. Oktober 1938 sein berühmtes Hörspiel ausstrahlte, gerieten viele Radiohörer in Panik. Die vertonte Romanvorlage suggerierte durch geschickte Dramaturgie, daß eine Invasion von Marsmenschen im Gange sei. Heute ist alles ruhig. Dabei befinden wir uns tatsächlich in einem Krieg der Welten, freilich ohne Außerirdische und Hightech-Waffen. Es ist ein Krieg zwischen Staaten, Banken, Kontinenten. Ein Wirtschaftskrieg, wie es ihn so noch nie gegeben hat. Das extrem verschuldete Amerika gegen ein Europa, dessen antiquierte Angst vor Schulden ihm nun zum Verhängnis gerät. Eine Horde von Spekulanten, die die europäische Euro-Festung genüßlich zerlegen, nach Regeln, die sie selbst erdacht haben.

Eine Invasion von Körperfressern, die die Demokratie zu einer leeren Hülle werden lassen. Das träge parlamentarische System ist den schnellen Schachzügen der Banken, Spekulanten und Rating-Agenturen hoffnungslos unterlegen. Während sich die politischen Akteure noch über Griechenland streiten, hat man bereits Italien sturmreif geschossen, Spanien steht vor dem Fall, Belgien und Frankreich werden schon belagert, selbst der Exportweltmeister wird bedroht.

Die Bank Goldman-Sachs, deren Agenten schon vor Jahren die Lunte in Griechenland gelegt hatten, stellt nun in Italien mit Mario Monti den Regierungschef. Auch der neue Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi ist ein ehemaliger Banker von Goldman-Sachs. Kanzlerin Merkels wichtigster Finanzberater Otmar Issing ist aus dem gleichen Stall. Die Rating-Agenturen, allesamt in den USA ansässig, bestimmen die Wahl der Waffen. Als Standard & Poor's am 10. November »irrtümlich« Frankreichs Kreditwürdigkeit herabsetzte, brach in der Pariser Regierung Panik aus. In diesem Krieg ist der gesenkte Daumen die Superwaffe, die hektisch verabschiedeten Sparprogramme wirken wie der Versuch, den Brand mit Öl zu löschen. Die Geschichte erfährt gerade eine fatale Beschleunigung. Niemand kann mehr sagen, wer in einer Woche, in einem Monat noch regiert, wo Europa in einem Jahr stehen wird. Wird es in Frankreich nächstes Jahr überhaupt noch Wahlen geben oder ist dann längst der »Fachmann« Jean-Claude Trichet Präsident? Wird es demnächst unter Angela Merkel eine große Krisenkoalition geben, oder wird der Schweizer Banker zum Notkanzler? In welchen Ländern wird es militanten Widerstand gegen die Austeritätspolitik geben, und wie wird darauf reagiert werden?

Wie in allen Kriegen werden die kleinen Leute die Zeche zahlen müssen. In Griechenland wird gerade das erste Exempel statuiert. Man gibt alternativlose Sachzwänge vor, senkt das Lebensniveau, erhöht Steuern, kürzt Sozialprogramme. Es steht nicht gut um Europa. Der Begriff Demokratie wird immer mehr zur leeren Hülle, und die beklagte Verdrossenheit der müden Massen ist die logische Folge aus der Erkenntnis, daß »Volksherrschaft« ein Übersetzungsfehler sein muß. Doch selbst pseudodemokratische Scheinwahlen passen heute nicht mehr in die Welt der schnellen Trader und Spekulanten. Wer Wahlen abhält, hat schon verloren, denn die Märkte ertragen eine über Monate dauernde Entschleunigung nicht. Was gerade noch geduldet wird, sind Allparteien-Regierungen oder eine Diktatur der »Fachleute«. Das meint Frau Merkel mit ihrer marktkonformen Demokratie.

Während in Europa Diadochenkämpfe toben, wird in anderen Teilen der Welt ebenfalls Krieg geführt. Die mit 15 Billionen verschuldete westliche Supermacht macht sich daran, ihren Hauptgläubiger zu drangsalieren, der Mythos von der gelben Gefahr macht wieder die Runde. Hat nicht schon einmal ein völlig überschuldetes, hochgerüstetes Land versucht, seine Schulden militärisch zu tilgen?

Auch im Nahen Osten werden die Karten neu gemischt. Hier werden Schiiten gegen Sunniten, reiche gegen arme Staaten ausgespielt, Kredite großzügig gewährt oder gekürzt, Waffen verkauft oder verschenkt. Die Atommacht Israel bereitet sich darauf vor, die iranische Konkurrenz auszuschalten. Wenn die Finanzmärkte die Kollateralschäden für vertretbar halten, wird auch ein amerikanischer Präsident seine Zustimmung nicht verweigern. Das Irrationale gewinnt an Boden, Finanzoligarchien halten sich Hampelmänner, die Politik spielen dürfen, der Parlamentarismus findet nur noch in der Lobby statt. Es steht nicht gut um die Welt. Man muß schon über eine gehörige Portion Optimismus verfügen, um ein gutes Jahr 2012 zu wünschen ...