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Titel252013

Erinnerungen an die letzte Große Koalition  (Christoph Butterwegge)

Das nach wochenlangen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen gebildete Regierungsbündnis von CDU, CSU und SPD weckt bei Teilen der Bevölkerung große Erwartungen, die aller Voraussicht nach enttäuscht werden. Der folgende Rückblick auf die Steuer- und die Rentenpolitik der letzten Großen Koalition von 2005 bis 2009 zeigt, daß deren Neuauflage kein Glücksfall ist, sondern zumindest für die sogenannten kleinen Leute und den Wohlfahrtsstaat kaum Gutes verheißt.

Typisch dafür war die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer. CDU und CSU hatten im vorangegangenen Bundestagswahlkampf erklärt, der damals gültige Steuersatz von 16 Prozent müsse um zwei Punkte erhöht werden. Während sich die christdemokratische Kanzlerkandidatin ihrer Ehrlichkeit rühmte, eine Steuererhöhung vor der Wahl anzukündigen, machten SPD-Politiker mit dem Schimpfwort »Merkel-Steuer« dagegen Stimmung. Während ihrer Koalitionsverhandlungen einigten sich CDU, CSU und SPD nicht etwa auf eine moderate Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt, sondern beschlossen gleich eine Steigerung von 16 auf 19 Prozent. Getroffen wurden besonders kinderreiche Geringverdiener und Transferleistungsbezieher, die einen Löwenanteil ihres Einkommens in den Konsum stecken (müssen).

Umgekehrt verfuhren CDU, CSU und SPD im Hinblick auf die Kapital- und Gewinnsteuern, deren Absenkung besonders Wohlhabende entlastete. Durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 Prozent entließen CDU, CSU und SPD große Unternehmen weitgehend aus ihrer Verantwortung für die Finanzierung des Gemeinwesens. Seit dem 1. Januar 2009 werden Einkommen aus Vermögen und Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne, die früher nach einer zwölfmonatigen Spekulationsfrist steuerfrei blieben) gegenüber anderen Einkunftsarten privilegiert, das heißt Rentiers niedriger als Arbeitnehmer besteuert. An die Stelle der Zinsabschlag- trat eine pauschale Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent, die denjenigen am meisten nützt, die den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer zahlen müssen. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück begründete diese Maßnahme mit einem flotten Spruch: »25 Prozent von X sind mir lieber als 42 Prozent von nix.« Dabei zahlt der nach Luxemburg, Liechtenstein oder in die Schweiz entwichene Steuerflüchtling nach wie vor nix, aber wer damals 42 Prozent von X bezahlte, entrichtet heute bloß noch 25 Prozent von X, was die Handlungsfähigkeit des Staates weiter beschränkt und seine Möglichkeit beschneidet, soziale Probleme zu lösen.

Witwen und Waisen von Familienunternehmern wurde die betriebliche Erbschaftsteuer erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre lang fortführten und die Lohnsumme insgesamt mindestens zehnmal so hoch wie im letzten Tätigkeitsjahr des Erblassers war. Reiche und Superreiche gründeten sogenannte Cash-GmbHs, also Scheinfirmen, in die Geld floß, um steuerfrei vererbt werden zu können. Die zuletzt in der Bundesrepublik unübersehbare Spaltung in Arm und Reich wurde so nicht bloß zementiert, sondern verschärft.

Besonders widersprüchlich fiel die Regierungspolitik von CDU, CSU und SPD im Bereich der Alterssicherung aus. Rentenkürzungen schloß der Koalitionsvertrag zwar für die ganze Legislaturperiode aus, er sah aber zwecks Gewährleistung der Beitragssatzstabilität die Möglichkeit, »nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen«, sowie die »schrittweise, langfristige Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters« vor. Während mit dem »Nachholfaktor« erreicht werden soll, daß Kürzungen, auf die zunächst verzichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektakulär – wirksam werden, wollten CDU, CSU und SPD die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demografischen Wandel verlängern und 2007 die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang bis spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen.

Nach dem am 1. Februar 2006 auf Drängen des damaligen Arbeits- und Sozialministers Franz Müntefering vom Bundeskabinett gefaßten Beschluß erhöht sich das Regelrentenalter seit 2012 schrittweise, bis 2031 alle erst mit 67 in Rente gehen können. Angesichts der Tatsache, daß nicht einmal 30 Prozent der Menschen im Alter von 60 bis 64 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, führt diese »Reform« zu weiteren Rentenkürzungen, zwingt sie doch noch mehr Beschäftigte, vor Erreichen der Regelaltersgrenze – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen.

Daß die künftigen Altersrenten dürftiger ausfallen, hängt auch mit dem Beschluß der zweiten Großen Koalition zusammen, die abgabenfreie Entgeltumwandlung als Dauerregelung beizubehalten. Die rot-grüne Bundesregierung hatte den Versicherten zunächst bis zum Jahr 2008 befristet das Recht eingeräumt, Teile ihres Lohns in – ausschließlich von den Beschäftigten finanzierte – Ansprüche auf betriebliche Altersrenten umzuwandeln, ohne daß für diese Lohnanteile Steuern und Sozialabgaben anfielen. Davon profitieren die Arbeitgeber, während die Einnahmenbasis der Rentenversicherungsträger unterminiert und der Leistungsanspruch aller Versicherten reduziert wird.

Daß die von 2009 bis 2013 amtierende Regierung aus CDU, CSU und FDP viele Maßnahmen der Großen Koalition an sozialer Härte noch überboten und die entsprechenden Gesetze weiter verschärft hat, ist kein überzeugendes Argument für eine Neuauflage dieser Bündniskonstellation. Nötig wäre vielmehr eine umfassende Kurskorrektur auf zentralen Politikfeldern, vor allem der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik, der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Familien-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, aber auch der Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik.

Die neue Bundesregierung wird höchstwahrscheinlich ebenfalls der Versuchung erliegen, Wahlversprechen zu brechen und Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir am Vorabend einer »Agenda 2020«, die den Bismarckschen Sozial(versicherungs)staat in einen bloßen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat verwandeln kann. Die staatliche Unterstützung wird sich noch stärker auf die »wirklich Bedürftigen« konzentrieren, auf die Gewährleistung des Existenzminimums beschränken und auf eine »Gegen-leistung« ihrer Nutznießer dringen. Daß sich der Sozialstaat darauf beschränkt, das Verhungern seiner Bürger/innen zu verhindern, dürfte allerdings weder im Sinne des Grundgesetzes noch in einer so wohlhabenden Gesellschaft wie unserer ethisch verantwortbar sein.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist bei Springer VS die 5. Auflage seines Standardwerkes »Krise und Zukunft des Sozialstaates« erschienen.