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Titel252013

Als Reporter beim Auschwitzprozeß  (Conrad Taler)

Zehnmal erklingt leise ein scheppernder Glockenton, dann ruft ein Wachtmeister aus dem Hintergrund: »Aufstehen, das Gericht kommt!« Kurz danach: »Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.« So beginnt meine erste Reportage vom Auschwitzprozeß, der vor fünfzig Jahren, am 20. Dezember 1963, in Frankfurt am Main eröffnet wurde. Damals war ich Mitte Dreißig. Über die deutsche Todesfabrik im besetzten Polen hatte ich schon einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozeß wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag. Mußte das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her, und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt.

In meinen Berichten für das monatlich erscheinende offizielle Organ der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Die Gemeinde, erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Als meine Reportagen in Buchform erschienen, schrieb ich im Vorwort: »Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.« (»Asche auf vereisten Wegen«, PapyRossa-Verlag 2003). Die Suche nach einem Verlag hatte sechs Jahre gedauert. Ich gewann dabei den Eindruck, daß alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren, wenn Unangenehmes beim Namen genannt wird.

Auf Empfehlung des Bremer Senators für Bildung und Wissenschaft, Willi Lemke, berichtete ich an Schulen der Hansestadt verschiedentlich über den Auschwitzprozeß. Mir ging es darum, junge Menschen gegen neonazistisches Gedankengut zu immunisieren. Angekündigt wurde ich immer als Zeitzeuge. Nachdem der Verfassungsschutz in der Rubrik »Linksextremistische Bestrebungen« seines Jahresberichtes 2003 das Gerücht ausgestreut hatte, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten setze hochbetagte Personen als Zeitzeugen ein, die »zumeist aus kommunistischer Sicht« über den Terror der Nationalsozialisten berichteten, wollte ich vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble wissen, ob der Verfassungsschutz auch mich im Visier hat.

»Ich bin zwar von niemandem als Zeitzeuge eingesetzt worden«, schrieb ich dem Minister am 8. Februar 2007, »fühle mich aber verunsichert. Was ist unter kommunistischer Sichtweise zu verstehen? Was muß ich beachten, um nicht in verfassungsfeindlicher Weise über den Auschwitzprozeß und seine Bedeutung für nachfolgende Generationen zu referieren?« Ich bat um »ein paar klärende Worte«, aber dem an sich schreibfreudigen Minister fiel dazu nichts ein. Er ließ den Brief unbeantwortet.

Jungen Menschen einen faßbaren Eindruck vom Geschehen in Auschwitz zu vermitteln, ist schwer. Wie sollen sie verstehen, daß Angehörige eines Kulturvolkes in der Mitte Europas zu willigen Gefolgsleuten eines barbarischen Regimes herabsanken und Schlachthäuser für Menschen errichteten? Niemand wurde zu der mörderischen Tätigkeit gezwungen. Es gab vereinzelt SS-Leute, die den Anblick der Leichen beim Öffnen der Gaskammern und den Gestank der Krematoriumsöfen nicht ertrugen. Sie ließen sich versetzen. Alle anderen hielten das schaurige Geschehen für normal. In ihrem Haß auf die Juden stimmten sie mit der Naziführung völlig überein. Aber da war noch etwas anderes, der Haß auf die Kommunisten. Der ehemalige SS-Mann Oswald Kaduk rühmte sich später vor Gericht damit, den Häftling und späteren polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz in Auschwitz geohrfeigt zu haben. Auf die Frage, warum er das getan habe, antwortete er: »Ich habe die Kommunisten schon immer gehaßt.« Warum sagte er das? Wollte er damit Eindruck machen, weil antikommunistische Gesinnung immer noch hoch im Kurs stand?

Am 19. August 1965 wurden die Urteile verkündet. In meinem Abschlußbericht schrieb ich: »Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der ›schwarze Tod‹ von Auschwitz, der Gestapomann Wilhelm Boger, trägt wie immer ein Lächeln in seinem harten Gesicht, dann betreten die Richter den Saal. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Anspannung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß. Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal Freiheitsstrafen zwischen drei und vierzehn Jahren und dreimal Freispruch. Das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst.«